Exekutive Dysfunktionen im Job: Wenn unser Kopf blockiert, die Deadline aber immer näherrückt

Vor ein paar Wochen erzählte mir ein Klient – nennen wir ihn Stefan – folgende Geschichte:

„Letzten Montag saß ich zwei Stunden vor meinem Laptop und machte gar nichts.

Okay, etwas habe ich schon gemacht. Ich habe meine E-Mails gecheckt. Durch Slack gescrollt. Fünfmal meine To-do-Liste neu sortiert. Sogar eine neue Playlist mit dem Titel „Konzentration!” erstellt.

Aber die eigentliche Aufgabe, den umfassenden Bericht, der am nächsten Morgen fällig war, habe ich völlig unberührt gelassen.

Es lag nicht daran, dass mir der Bericht egal war. Im Gegenteil, er war mir wirklich äußerst wichtig. Aber je mehr ich über das Anfangen nachdachte, desto schwerer fühlte es sich an. Als würde mein Gehirn versuchen, durch nassen Beton zu laufen. Ich konnte mich einfach nicht dazu bringen, den Bericht in Angriff zu nehmen.“

Wenn unser Gehirn den Startknopf nicht findet

Wenn du ADHS hast (oder eine andere Form von Neurodivergenz), kennst du dieses Gefühl wahrscheinlich allzu gut. Du willst anfangen. Du musst anfangen. Aber dein Gehirn macht einfach nicht mit.

Es ist, als säßest du in einem Auto mit laufendem Motor, aber der Gang steckt im Leerlauf fest. Je stärker du auf das Gaspedal trittst, desto lauter heult der Motor auf, aber du bewegst dich keinen Zentimeter.

Viele verwechseln das mit Faulheit. Oder mangelnder Disziplin. Aber das ist es nicht. Es hat etwas mit der Vernetzung in unserem Gehirn zu tun.

Exekutive Dysfunktion entsteht, wenn der Boss unseres Gehirns, der präfrontale Cortex, es nicht schafft, uns in Bewegung zu setzen. Der präfrontale Cortex ist für das Planen, Priorisieren, Organisieren und für das Anfangen von Aufgaben zuständig. Und wenn Dopamin, unser Treibstoff für Motivation, zu niedrig ist, ist es so, als würde unser Boss den Schlüssel zum Besprechungsraum nicht finden und somit das Meeting nicht eröffnen können. Wir stehen also vor verschlossener Tür und drehen Däumchen.

Unter Stress wird es meistens nur noch schlimmer. Denn wenn wir Angst vor dem Versagen haben, schaltet das Gehirn in den Überlebensmodus. Die Amygdala (unser eingebautes Alarmsystem) übernimmt die Regie und flutet uns mit Stresshormonen, die dann genau jene Gehirnbereiche kapern, die wir fürs Denken brauchen.

Statt ruhig am Bericht zu arbeiten, scrollen wir durch TikTok oder sortieren das Gewürzregal alphabetisch. Wir machen plötzlich alles lieber als die vor uns liegende Aufgabe, weil sie uns unüberwindlich erscheint.

„Gelähmte“ Momente

Viele von uns kennen das Gefühl, wie gelähmt vor unserem Laptop zu sitzen in dem Wissen, dass wir endlich mit der zu erledigenden Aufgabe anfangen müssten, aber diesen Anfang einfach nicht finden können.

Oft sind es gerade die wichtigen Aufgaben, an denen wir hängenbleiben. Die, die zählen. Wenn etwas von besonderer Bedeutung ist, wie beispielsweise eine Präsentation, ein Kundenprojekt oder eine große Entscheidung, verwechselt unser Gehirn Wichtigkeit mit Gefahr.

Und sobald dieser Schalter umgelegt ist, fährt unser Körper in den Freeze-Modus. Unsere Gedanken verschwimmen, unsere Schultern ziehen sich zusammen und selbst der Gedanke ans Anfangen löst bei uns ein Gefühl der Panik aus. Jedoch hat diese Reaktion absolut nichts mit Faulheit zu tun: Unser Gehirn ist einfach überfordert und versucht, uns mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zu schützen. Auch wenn dies letztendlich kontraproduktiv ist und uns in große Schwierigkeiten bringt.

Was also hilft uns in solchen Momenten?

In den letzten Jahren habe ich viele Strategien und Techniken gesammelt, die sowohl von meinen Klienten als auch aus meinem eigenen Alltag stammen. Strategien, die MIT unserem ADHS-Gehirn und nicht DAGEGEN arbeiten.

Hier sind einige Tipps, die viele meiner Klienten regelmäßig benutzen, wenn so gar nichts mehr zu funktionieren scheint:

1. Der „Zwei-Minuten-Erfolg“

Auch wenn wir das Gefühl haben, zu nichts in der Lage zu sein, ist es uns aber meistens trotzdem möglich, mit einem winzigen Schritt zu beginnen:

  • Wir öffnen unser Dokument.

  • Tippen einen Satz.

  • Machen die Überschrift fett.

Wir stellen einen Timer für zwei Minuten und versichern uns, dass wir uns jetzt für diese Zeitspanne mit unserer Aufgabe beschäftigen - ohne Ausreden oder Ablenkungen. Oft merkt unser Gehirn dann, dass die Aufgabe doch gar nicht so schlimm ist und hebt die Blockade langsam auf.

Neulich konnte ich mich beim besten Willen nicht überwinden, die Beschreibung für einen meiner Workshop zu verfassen. Also sagte ich mir: „Mach einfach mal ein Word-Dokument auf und denk dir eine Überschrift aus.“ Mehr nicht. Zehn Minuten später hatte ich doch tatsächlich drei Absätze aufs Papier gebracht.

Das hat nichts mit Willenskraft zu tun, sondern ist rein physikalisch erklärbar: Ein Objekt in Bewegung bleibt in Bewegung. Wir müssen nur ins Rollen kommen.

2. Der „hässliche erste Entwurf“

Unser innerer Perfektionist kann gewieft sein und flüstert uns nicht selten zu: „Du kannst erst dann anfangen, wenn du genau weißt, was du sagen willst.“ Das ist jedoch völliger Unsinn!

Um diese Stimme zu überlisten, müssen wir unsere Ansprüche zunächst deutlich herunterschrauben und uns mit vorläufigen, fragmentarischen Entwürfen anfreunden. Ich nenne sie auch gerne „Brain Dumps“. Ich sage mir dann: „Das, was du jetzt schreibst, wird niemand zu Gesicht bekommen. Du schreibst jetzt einfach alles auf, was dir in den Sinn kommt.“

Wenn wir uns die Erlaubnis geben, eine Sache zunächst chaotisch machen zu dürfen, sinkt der Druck. Und sobald Worte und Sätze auf einem Blatt existieren, fällt uns das Überarbeiten oft viel leichter als bei null zu starten. Es ist ein Trick: Wir senken unsere Erwartungshaltung, damit unser Gehirn aus dem Panikmodus ausbrechen und sich sicher fühlen kann.

3. Die stille Begleitung: Body Doubling

Body Doubling ist eine Strategie, die ich tagtäglich nutze und die meine Produktivität grundlegend verändert hat. Oft arbeite ich am Küchentisch neben meinem Mann. Wir setzen uns beide hin, öffnen unsere Laptops und sagen: „Okay, 45 Minuten ohne Ablenkung.“ Und wir fangen einfach gemeinsam an, an unseren Projekten zu arbeiten.

Es ist verrückt, wie sehr mir das hilft. Allein zu wissen, dass jemand da ist, der neben mir still vor sich hinarbeitet, beruhigt mich und hält mich davon ab, ständig andere Dinge in Angriff zu nehmen, wie z.B. die vollen Wäschekörbe oder die Vorbereitung des Mittagessens.

Auch virtuelle „Focus Spaces“ können wunderbar funktionieren -. je nach dem, wie unser Bedarf gerade ist und welche Personen wir als ein mögliches Body Double zur Verfügung haben.

4. Alles Wichtige gut sichtbar machen

ADHS-Gehirne sind nicht dafür gemacht, Termine oder To-do Listen im Kopf zu behalten. Je mehr wir versuchen, uns „einfach zu erinnern“, desto mehr vergessen wir normalerweise.

Also macht es Sinn, so viel wie möglich gut sichtbar nach außen zu verlagern, sei es mit Hilfe von Sticky Notes, visuellen Timern, farbcodierten Kalenderblöcken für Meetings, Pausen, Fokusphasen etc.

Es geht nicht um perfektes Organisieren, sondern darum, mentale Kapazität freizuschaufeln. Wenn unser Gehirn nicht ständig sämtliche Informationen im Kopf behalten muss, kann es sich auf das wirklich Wichtige konzentrieren, und wir kommen mit unserer Arbeit besser voran.

5. Erst die Belohnung dann die Arbeit

Das klingt vielleicht ungewöhnlich: sich selbst zu belohnen, bevor man mit seinen Aufgaben angefangen hat. Aber es funktioniert. Wenn ich mir zuerst ein paar Kekse auf einen Teller lege, eine Tasse meines Lieblingstees aufgieße oder meine Lieblingsmusik anstelle, denkt mein Gehirn: „Oh, das fühlt sich gut an. Hier kann ich mich entspannen und sicher fühlen.” Und die Arbeit geht mir leichter von der Hand.

Dopamin vor Disziplin. Das ist mein Motto.

Systeme aufbauen, die zu uns passen

Exekutive Dysfunktion kann selbst einfache Dinge wie Berge erscheinen lassen. Aber es ist kein Charakterfehler. Es ist ein neurobiologisches Nadelöhr. Der präfrontale Cortex wird überfordert, Unser Dopamin sinkt, und das Gehirn tut, was es immer tut, wenn es sich bedroht fühlt: es versucht, uns zu schützen.

Wenn wir das verstehen, hören wir auf zu fragen „Was stimmt nicht mit mir?“ und versuchen stattdessen herauszufinden, was unser Gehirn gerade wirklich braucht.

Das können visuelle Strukturen sein (Trello-Boards mit Farben und Emojis), Routinen (morgens kreatives Schreiben, nachmittags administrative Arbeit) oder manchmal auch einfach nur ein Snack oder ein kurzer Spaziergang.

Wenn wir nicht ständig erwarten, dass unser Gehirn linear und konstant funktioniert, wie bei neurotypischen Menschen, können wir jede Menge Hilfsmittel einbauen, die uns das Leben erleichtern: Reminders, Timer, Whiteboards, Apps, etc.

Schwierigkeiten mit unseren exekutiven Funktionen verschwinden in der Regel nicht, aber sie lassen sich viel besser managen, wenn wir aufhören, gegen sie anzukämpfen.

Daher gilt ohne Zweifel: Du musst dein Gehirn nicht besiegen, um gute Arbeit zu leisten. Du musst mit ihm zusammenarbeiten.

Wenn dein Gehirn wie gelähmt erscheint, die Zeit aber ungerührt voranschreitet, dann behandle dich mit Verständnis und Empathie. Verfalle nicht in Panik, sondern denke daran: Jede Arbeit beginnt normalerweise mit einem winzigen, unperfekten Schritt. Und diesen ersten Schritt zu meistern, ist unsere primäre Aufgabe - und nicht unser gesamtes Projekt in einer Sitzung zu beenden!

Wenn ich dir auf deinem Weg helfen kann, melde dich jederzeit, und wir sprechen miteinander!

kostenloses Erstgespräch buchen

Wenn du gerne regelmäßig meine Blogposts erhalten möchtest, dann kannst du hier meinen Newsletter abonnieren:

Newsletter abonnieren
Weiter
Weiter

ADHS und das Mikrobiom: Was die Forschung bis jetzt über die Verbindung von Darm und Gehirn weiß