ADHS oder der ewige Kampf mit der Unordnung
Warum ist es eigentlich so unglaublich schwer, Ordnung in den eigenen vier Wänden zu halten? Oder, wie eine Freundin von mir es mal so treffend formulierte: „Es ist, als würde man versuchen, einen fahrenden Zug auf Rollschuhen einzuholen.“ Ich finde diesen Vergleich sehr zutreffend!
Seit ich denken kann, habe ich Schwierigkeiten damit, bei mir Zuhause alles sauber und ordentlich zu halten. Schon als Jugendliche fand ich aufräumen eine Herausforderung – aber damals war für mich ein unordentliches Zimmer ein Zeichen meiner Unabhängigkeit, eine indirekte Auflehnung gegen die spießigen Regeln meiner Eltern. Somit lagen in meinem Zimmer leere Chipstüten neben schmutzigen Klamotten und darauf jede Menge „wichtige Dinge“ – kleine Häufchen, oder sogenannte Doompiles mit Arbeitsblättern, Dokumenten, halb gelesenen Büchern und längst vergessenen To-do-Listen, die sich immer weiter vermehrten. Diese Häufchen sind leider bis heute noch meine treuen Begleiter.
Als ich dann mit dem Studium begann, wurde es etwas besser. Ich hatte meine rebellische Phase überwunden und schämte mich, wenn meine Freunde in ein vermülltes Zimmer kamen – also räumte ich öfter auf. Und als ich dann meinen Job als Professorin antrat und mehr Struktur in meinem Leben hatte, war das Aufräumen und Saubermachen über viele Jahre hinweg Teil meines Wochenplans. Es klappt alles leidlich gut, bis mein Mann und ich unsere zwei Söhne adoptierten - und mein genau ausgeklügelter Ordnungsplan brach einfach in sich zusammen und konnte nie mehr reaktiviert werden.
Geschirr? Steht oft tagelang in der Spüle, bis wir wirklich notgedrungen abspülen müssen, weil es keine Teller mehr gibt.
Wäsche? Mein Mann wäscht regelmäßig, aber ich schaffe es oft nicht, unsere Kleidung zeitnah zu falten und wegzuräumen, so dass sich die Wäschekörbe im Wohnzimmer stapeln.
Kühlschrank? Oft so überfüllt, so dass es schwierig ist, alle Lebensmittel im Blick zu behalten. Das führt nicht selten zu verschimmelten Joghurts oder steinharten Broten, die ich aus entlegenen Ecken nach Wochen herauswische und angeekelt entsorge.
Ich wünschte, es wäre anders, aber oft ist der Tag einfach nicht lang genug, um der Ordnung auch ihren fest Platz einzuräumen. Was also tun, wenn uns alles zu viel wird?
1. Erwartungen senken und Frieden mit dem Chaos schließen
Einer der hilfreichsten Gedanken für mich persönlich kommt von Dr. Edward Hallowell, einem US-amerikanischen Psychiater und ADHS-Experten, den ich sehr schätze. Er ist der Meinung, dass Menschen mit ADHS akzeptieren sollten, dass ihr Zuhause nicht perfekt aufgeräumt ist und es immer irgendwo unordentliche Ecken geben wird. Ein Wohnzimmer à la Schöner Wohnen ist zwar ein durchaus verständlicher Traum, aber für viele von uns schlichtweg nicht realistisch – und auch gar nicht notwendig, um ein erfülltes Leben zu führen. Statt in Scham und Frust zu versinken, sollten wir versuchen, ein erträgliches Chaos als Teil unseres Alltags zu akzeptieren und damit leben lernen.
2. Dringlichkeit nutzen – Freunde einladen
Unsere ADHS-Gehirne lieben Dringlichkeit. Deshalb kann es eine ausgezeichnete Idee sein, regelmäßig Freunde und Bekannte zu uns einzuladen: nicht für ein großes Abendessen, sondern einfach nur auf ein Bier oder ein paar Snacks. Es geht nur darum, für uns selbst einen Anlass zu schaffen, mal wieder durchzusaugen, den Esstisch freizuräumen oder wenigstens eine Fläche zu finden, die nicht vollgestellt ist.
3. Jeden Tag ein bisschen – die 30-Minuten-Regel
Eine Methode, die mir immer wieder hilft: die 30-Minuten-Regel. Ich stelle einen Timer, nehme mir ein Zimmer vor und räume oder putze 30 Minuten lang. Nicht mit dem Ziel, fertig zu werden, sondern um überhaupt anzufangen. Diese kleinen Schritte bringen mir mehr als eine große Putzaktion, nach der ich dann völlig erschöpft bin und die Ordnung kaum einen Tag aufrechterhalten kann, was bei mir wiederum zu großer Frustration führt.
4. Kisten und Körbe für das tägliche Chaos
Besonders in oft genutzten Räumen wie dem Wohnzimmer türmt sich bei uns ständig das Chaos. Daher gibt es bei uns mehrere Kisten und Körbe, in die ich alles hineinwerfe, was sonst wild herumliegen würde – Spielzeug, Schuhe, Kleidung, Malsachen, etc. Und wenn eine Kiste voll ist, nehme ich mir irgendwann die Zeit, alle Dinge wieder an ihren Platz zu räumen. Das ist zwar kein perfektes System, aber hilft mir, weniger Unordnung im Haus zu haben.
5. Jeder Gegenstand braucht ein Zuhause
Ein echtes Problem bei ADHS ist oft die Tatsache, dass viele Dinge keinen festen Platz haben, an den sie gehören. Wenn ich nicht weiß, wohin ich meine selbstgemachten Kerzen, die winterlichen Schals und Mützen oder die Hundefutterdosen tun soll, ist die Chance sehr groß, dass sie einfach immer weiter durch das Haus fahren und irgendwann in der Versenkung verschwinden. Somit versuche ich, so gut es geht, allen Gegenständen einen festen Platz zuzuweisen, damit ich sie a) besser wegräumen und b) leichter wiederfinden kann. Denn je einfacher das Aufräumen, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass es auch wirklich funktioniert.
6. Auf dem Weg aufräumen – „micro tidying“
Wenn ich wirklich gar keine Zeit habe – was eigentlich ständig vorkommt, wenn ich versuche, meine Selbstständigkeit, Haushalt und die Bedürfnisse meines neurodivergenten Sohnes unter einen Hut zu bekommen – verbinde ich das Aufräumen mit anderen Tätigkeiten. Jedes Mal, wenn ich beispielsweise durch meine Wohnung laufe, hebe ich ein oder zwei Dinge auf und lege sie wieder an ihren Platz. Dadurch beseitige ich zwar nicht das gesamte Chaos, aber bin in der Lage, es mehr oder weniger gut in Schach zu halten, so dass es mich nicht vollkommen überwältigt.
7. Dinge sichtbar machen, damit wir sie nicht vergessen
Was wir nicht sehen, existiert für uns oft einfach nicht. Deshalb können geschlossene Schränke oder Schubladen recht problematisch sein. Ich versuche, so oft ich kann durchsichtige Kisten oder offene Regale zu nutzen. Oder ich beschrifte alles mit kleinen Aufklebern, so dass mir nicht entfällt, was sich in den Schubladen oder Behältern befindet. Das hilft mir enorm, den Überblick zu behalten und nicht immer endlos suchen zu müssen. Auch Whiteboards, Post-its oder Listen helfen mir dabei.
8. Putzen mit angenehmen Tätigkeiten verbinden
Die wenigsten von uns finden Aufräumen oder Putzen wirklich spannend. Das macht es oft sehr schwer für uns, die nötige Motivation zum Anfangen aufzubringen. Jedoch können wir uns da austricksen: Wenn ich beim Aufräumen Podcasts höre, ein Hörbuch laufen lasse oder meinen Lieblingssnack esse, wird es plötzlich viel erträglicher. Ich bin oft so gefangen in der Geschichte oder Musik, dass ich ohne Schwierigkeiten meine Aufgaben erledige, weil ich unbedingt weiter zuhören möchte.
Ein paar Gedanken zum Schluss
Mit ADHS leben heißt oft, sich in einer Welt zurechtzufinden, die nicht für unsere Art zu denken gemacht ist. Ein aufgeräumtes Zuhause gehört zu den Dingen, bei denen dieser Unterschied besonders deutlich spürbar wird, weil es unseren Alltag, unser Wohlbefinden und auch unser Selbstbild beeinflusst.
Aber: Wir brauchen kein Instagram-taugliches Zuhause, um eine gute Mutter, Partnerin oder Mensch zu sein. Was wir brauchen, sind Strategien, die zu uns passen, sowie Mitgefühl mit uns selbst, wenn es mal nicht so läuft.
Wenn wir also gerade mal wieder auf einen Wäscheberg starren oder den modrigen Geruch aus der Spülmaschine riechen, sollten wir uns daran erinnern, dass es vielen anderen Menschen genauso geht und Unordnung kein Zeichen für Unfähigkeit oder Gleichgültigkeit ist.