Fünf Schritte, wie du trotz ADHS erfolgreiche Informationsgespräche führen kannst
Als ich Professorin an einer privaten Universität in den USA war, leitete ich den Masterstudiengang in Übersetzungswissenschaften. Neben Theorie und Praxis der Übersetzung war ein Teil meiner Aufgabe, die Studierenden auf das Leben nach dem Studium vorzubereiten – vor allem auf die Frage: Wie finde ich einen Job, der wirklich zu mir passt?
Jedes Semester hielt ich ein Karriereseminar ab, in dem wir uns über Berufsfindung und Bewerbungen austauschten. Und jedes Semester stießen wir auf denselben großen Stolperstein: Informationsgespräche führen: also Menschen kontaktieren, die in einem Berufsfeld arbeiten, das für uns unter Umständen interessant sein könnte.
Meine Studenten waren intelligente, neugierige Menschen, aber schon der Gedanke, jemand Fremden anzuschreiben, war für viele angsteinflößend.
„Ich will niemandem auf die Nerven gehen.“
„Warum sollte die Person mit mir reden wollen?“
„Ich wüsste gar nicht, was ich sagen sollte.“
Solche Sätze hörte ich immer wieder. Und ja, ich verstehe die Vorbehalte meiner Studenten gut: Es kostet Überwindung, fremde Menschen um einen Gefallen zu bitten.
Aber Studien zeigen deutlich: Networking und insbesondere Informationsgespräche sind eine der effektivsten Strategien, einen Job zu finden. Laut einer Erhebung des U.S. Bureau of Labor Statistics werden 70–80 % aller Jobs über persönliche Kontakte vergeben. Und eine weitere Studie fand heraus: 85 % aller Stellen werden über Netzwerke besetzt. Diese Zahlen sprechen für sich und treffen insbesondere dann zu, wenn wir neurodivergent sind.
ADHS und die oft sehr komplizierte Arbeitswelt
Viele Menschen mit ADHS haben ein schwieriges Verhältnis zur Arbeitswelt. Sie blühen in kreativen, flexiblen Umgebungen auf, verzweifeln jedoch an starren Strukturen, endlosen Meetings oder unausgesprochenen Erwartungen. Ein klassischer 9-to-5-Job mit Großraumbüro und Routineaufgaben kann für ADHS-Gehirne eine echte Qual sein.
Wir funktionieren am besten, wenn Aufgaben interessant, sinnstiftend und klar strukturiert sind. Dann sind wir kreative Problemlöser, engagierte Teammitglieder und sprudeln vor lauter neuen Ideen. Aber wenn das Umfeld nicht zu uns passt, fühlen wir uns nicht selten frustriert, überfordert und zweifeln an unseren Fähigkeiten.
Die entscheidende Frage ist also: Wie finde ich einen Job, der zu meinem Gehirn passt und nicht nur zu meinem Lebenslauf? Und genau hier kommen Informationsgespräche ins Spiel.
Was ist ein Informationsgespräch?
Ein Informationsgespräch ist kein Vorstellungsgespräch. Es ist ein unverbindliches Gespräch mit einer Person, die in einem Bereich arbeitet, der uns interessiert. Mögliche Fragen, die wir stellen können, sind:
Wie sieht Ihr Arbeitsalltag aus?
Was gefällt Ihnen am besten (oder am wenigsten) an Ihrem Job?
Wie war Ihr Werdegang?
Welche Fähigkeiten sind in Ihrem Beruf wirklich wichtig?
Es geht nicht darum, sich zu bewerben. Es geht darum, echte Einblicke zu bekommen. Und viele Menschen reden gerne über ihren beruflichen Werdegang und ihre momentane berufliche Tätigkeit, besonders dann, wenn sie nicht um einen Job gebeten werden.
Warum fallen Informationsgespräche Menschen mit ADHS so schwer?
Einfach jemanden anschreiben klingt vielleicht zunächst recht simpel, erfordert aber genau das, was uns oft schwerfällt: Planung, emotionale Selbstregulation, Dranbleiben. Dazu kommt die Rejection Sensitive Dysphoria, also die starke Angst vor Ablehnung. Ein simples „Nein“ oder gar keine Antwort kann sich für Menschen mit ADHS äußerst verletzend anfühlen.
Weiterhin tragen viele ADHSler die Sorge in sich, „zu viel“ zu sein oder nicht professionell genug zu wirken. Der typische Perfektionismus-Teufelskreis entsteht: Wenn ich nicht genau weiß, was ich schreiben soll, schreibe ich lieber gar nichts.
Aber es geht auch anders, wie z.B. bei meiner neurodivergenten Studentin Lena, die großen Erfolg mit Informationsgesprächen hatte.
Wie es Lena Schritt für Schritt zu mehr beruflicher Klarheit geschafft hat
Schritt 1: Eine Richtung festlegen (auch wenn sie vage ist)
Lena wusste nur, was sie nicht wollte: bei einem großen Konzern arbeiten und dort monotone Aufgaben erledigen. Sie interessierte sich für NGOs, interkulturelle Bildung und eine Tätigkeit mit Sprachen.
Schritt 2: Menschen finden, mit denen man sprechen kann
Wir suchten gemeinsam auf LinkedIn und in unserem Alumni-Netzwerk nach guten Kontakten für Lena. Fünf Personen kamen auf ihre Liste, darunter ein Absolvent unseres Programms, der inzwischen für eine NGO in Seattle arbeitete.
Schritt 3: Eine einfache Nachricht schreiben
Lena war nervös. Also schrieben wir ihre E-Mail gemeinsam:
Sehr geehrter [Name], ich mache derzeit meinen Master in Übersetzungswissenschaften und informiere mich über verschiedene Berufsfelder. Ich habe gesehen, dass Sie im Bereich [XY] arbeiten und würde mich sehr freuen, wenn Sie Zeit hätten, mir etwas über Ihren Werdegang zu erzählen. Hätten Sie vielleicht 20 Minuten für ein kurzes Gespräch? Ich suche keine Arbeitsstelle. Ich möchte mich einfach nur mit erfahrenen Menschen unterhalten und dadurch mehr Klarheit über meine eigenen Berufsziele erlangen. Herzlichen Dank im Voraus! Mit freundlichen Grüßen, Lena
Am nächsten Tag kam die Antwort: „Klar! Gerne. Wann passt es Ihnen?“ Lena war völlig überrascht – und sehr erleichtert.
Schritt 4: Sich vorbereiten
Wir überlegten uns zusammen, welche Fragen Lena stellen könnte, z. B.:
Was war für Sie eine Überraschung, als Sie Ihre Stelle angetreten haben?
Was ist der befriedigendste und was der schwierigste Teil Ihrer Arbeit?
Was würden Sie anders machen, wenn Sie noch einmal ganz am Anfang Ihrer Laufbahn ständen?
Diese Fragen halfen Lena, sich im Gespräch besser zu konzentrieren und den roten Faden nicht zu verlieren.
Schritt 5: Das Gespräch kurz und knapp halten
Lena unterhielt sich mit ihrem neuen Kontakt ca. 20 Minuten lang. Das Gespräch verlief viel besser als erwartet. Lena kam strahlend zu mir zurück: „Er meinte, ich erinnere ihn an seine eigene Situation nach dem Uni-Abschluss. Und er will mich sogar mit zwei seiner Kollegen in Kontakt bringen!“
Dieses erste Gespräch führte zu drei weiteren. Und als Lena ihren Abschluss machte, hatte sie bereits ein kleines Netzwerk kreiert und eine viel klarere Vorstellung davon, was sie zukünftig beruflich machen wollte.
Warum sich ein Informationsgespräch eigentlich immer lohnt
Gerade wenn wir ADHS haben, brauchen wir oft mehr als nur eine Stellenbeschreibung. Wir brauchen authentische Erfahrungsberichte, die uns mehr Klarheit und persönliche Geschichten an die Hand geben. Und genau das erreichen wir durch Informationsgespräche.
Informationsgespräche sind nicht immer leicht, aber mit ein bisschen Hilfe von Außen, einem kleinen Fragenkatalog und einem hoffentlich netten Gesprächspartner können wir sehr viel über uns selbst und unsere Wünsche erfahren.
Wie bei Lena ist es absolut nicht nötig, dass wir bereits alles wissen. Neugier alleine reicht schon vollkommen aus.
Also: Wenn wir uns gerade in einer Situation befinden, in der wir uns beruflich verändern wollen oder das erste Mal eine richtige Stelle suchen, dann können wir die oben genannten Strategien anwenden: Zunächst einmal Personen auswählen, die uns interessant erscheinen, dann einmal tief durchatmen und mit ihnen nach und nach in Kontakt treten. Und oft sind wir positiv überrascht, wie hilfsbereit viele Menschen doch sein können – und wie sehr uns ein kurzes Gespräch weiterhelfen kann.