Produktivitätsprobleme bei ADHS: Was oft wirklich dahintersteckt
Wenn neue Klienten zu mir ins Coaching kommen, bringen sie oft eine hohe Erwartungshaltung und eine gewisse Ungeduld mit: „Ich brauche dringend ein paar Tipps“, sagen sie dann. „Effektive Strategien, die mir helfen, nicht mehr alles aufzuschieben.“ Oder: „Vielleicht finde ich ja endlich das richtige Kalendersystem, dann läuft’s bestimmt.“ Und ich verstehe das so gut. Ich war selbst einmal an diesem Punkt und fest davon überzeugt, dass ich nur die perfekte Methode finden müsste, um mein Leben endlich in den Griff zu bekommen.
Doch durch meine eigene Erfahrung und durch meine Arbeit mit vielen Klienten mit ADHS habe ich über die Jahre gelernt: Was von außen wie ein simples Problem aussieht, das sich mit ein paar Tools lösen lässt, ist in Wirklichkeit oft vielschichtiger. Dieses ständige Aufschieben? Die scheinbare Unfähigkeit, überhaupt anzufangen, obwohl wir wissen, wie wichtig die Aufgabe ist? Und dieses lähmende Schuldgefühl am Abend, weil wir wieder nicht das geschafft haben, was wir uns vorgenommen haben? Das sind keine schlechten Angewohnheiten. Das sind häufig Signale von unserem überreizten Nervensystem oder einem Gehirn, das einfach anders funktioniert.
Wenn wir ADHS haben, sind wir nicht selten in einem unsichtbaren Kampf gefangen. Wir versuchen, uns zu konzentrieren, doch unsere Gedanken schweifen sofort ab. Wir kennen unsere Ziele ganz genau, aber unser Gehirn macht uns einen Strich durch die Rechnung, besonders dann, wenn unsere Aufgabe langweilig oder langwierig ist. Und dazu kommen Schuldgefühle, Frust oder die Angst, andere zu enttäuschen.
Vor ein paar Wochen wurde mir das noch einmal in einer meiner Coachingsitzungen bewusst. Eine Klientin erzählte mir unter Tränen, dass sie früher eine ausgezeichnete Schülerin gewesen sei, bis sie ihr Studium begann. Plötzlich schien sie die Kontrolle über ihr Leben zu verlieren und fand es unmöglich, ihren Tag effizient zu strukturieren. Sie dachte zunächst, das Problem ließe sich mit einem besseren Zeitplan lösen. Doch je länger wir miteinander sprachen, desto klarer wurde: Es ging um viel mehr. Sie schlug sich mit Schlafstörungen, depressiven Episoden, sozialen Ängsten herum. Sie fühlte sich ständig überfordert und stand kurz vor einem mentalen Zusammenbruch. Was sie brauchte, war nicht ein weiteres Planungstool, sondern die Erlaubnis, nicht alles perfekt machen zu müssen: ihre vielen Uni-Kurse, ihr Wunsch, möglichst viele neue Menschen kennenzulernen, ihre sportlichen Ziele, ihre Ansprüche an gesunde Ernährung. Erst als wir unter die Oberfläche schauten, konnten wir wirklich verstehen, was eigentlich los war.
Genau das beobachte ich immer wieder: Wir kämpfen mit Ängsten, die uns keine Ruhe lassen. Mit Depressionen, die all unsere Motivation auslöschen. Und so liegen die Probleme beim Lernen oder Arbeiten oft eben nicht an mangelnder Disziplin, sondern an unseren eingeübten Verhaltensweisen, die auf bestimmten Vorstellungen basieren und uns nur unzureichend bewusst sind.
Perfektionismus + ADHS = Lähmung
Ein Beispiel: Viele von uns, die mit ADHS leben, leiden über Jahre hinweg an Perfektionismus. Weil unser Gehirn oft nicht so funktioniert, wie wir es uns wünschen, fühlen wir uns schnell unzulänglich, was an unserem Selbstbewusstsein nagt. Um eine vermeintliche Niederlage zu vermeiden, stellen wir enorm hohe Erwartungen an uns in der Hoffnung, unsere „Schwächen“ damit auszugleichen.
Doch Perfektionismus führt häufig genau zum Gegenteil: zu schlechteren Ergebnissen, weil wir durch den großen Druck anfangen, Aufgaben aufzuschieben. Denn wenn wir Versagensängste haben, erscheint es uns sicherer, gar nicht erst loszulegen, damit wir uns nicht mit unseren Schwierigkeiten auseinandersetzen müssen. Es entsteht ein Teufelskreis aus Vermeidung und Selbstvorwürfen, den wir nur schwer durchbrechen können.
Wenn also ein*e Klient*in zu mir sagt: „Ich brauche einfach eine striktere Routine, damit ich funktioniere“, ist das nicht unbedingt das eigentliche Problem, das wir in unserer Sitzung in den Vordergrund stellen sollten. Wichtiger als eine striktere Routine ist oft die Antwort auf die Frage, warum die bisherige Routine nicht zu mehr Erfolg geführt hat. Was liegt dem zu Grunde? Welche Glaubenssätze bestimmen unser Leben? Welche Gefühle kommen hoch, wenn wir über Produktivität und ein reibungsloses Funktionieren sprechen? Erst wenn wir diese fundamentalen Fragen klären können, kann eine längerfristige Veränderung wirklich stattfinden.
Was wirklich hilft
Was wirklich hilft – zumindest aus meiner Erfahrung und in der Arbeit mit meinen Klient*innen – ist der Versuch, uns selbst mit mehr Verständnis zu begegnen. Statt uns zu fragen: „Warum krieg ich das nicht endlich hin?“, könnten wir die Frage umformulieren zu: „Was ist im Moment mit mir los? Was brauche ich wirklich, um besser arbeiten zu können?“ Manchmal bedeutet das, neue Routinen zu schaffen, in denen viele Pausen, Bewegung oder emotionale Regulation ihren festen Platz haben. Und manchmal bedeutet es, den Anspruch auf einen perfekt strukturierten Tag mit maximaler Produktivität aufzugeben und uns stattdessen auf kleine Erfolge zu konzentrieren.
Einer meiner Lieblingsmomente im Coaching tritt immer dann ein, wenn ein*e Klient*in erkennt: Mit mir ist alles in Ordnung. Mein Gehirn ist nicht defekt. Ich brauche nur eine andere Art der Unterstützung. Und manchmal reicht schon allein diese Erkenntnis, dass wir aufhören dürfen, uns ständig selbst zu beschuldigen, aus, um etwas in Bewegung zu bringen.
Schlussgedanken
Produktivitätsprobleme haben nicht automatisch mit Disziplin oder mangelndem Willen zu tun. Oft fehlt uns einfach die passende Unterstützung.
Wie diese Unterstützung konkret aussehen kann, müssen wir von Fall zu Fall entscheiden: wir können uns Hilfe bei einem Coach, einem Therapeuten oder in unserem Freundeskreis holen. Aber eines ist sicher: Ein paar Tipps oder ein neuer Kalender reichen selten aus. Wenn wir also schon unzählige Strategien und Tools ausprobiert haben und nichts davon uns wirklich geholfen hat, liegt unsere Schwierigkeit vielleicht an einer ganz anderen Stelle, die wir genauer unter die Lupe nehmen sollten.
Wenn wir uns dann trauen, die wirklich wichtigen Fragen zu stellen, machen wir die größten Fortschritte. Wenn aus „Wie kann ich produktiver sein?“ ein „Warum ist es gerade so schwer für mich? Und was brauche ich wirklich?“ wird, finden wir oft verblüffende Antworten. Und wenn wir den Mut haben, uns mit unseren wahren Bedürfnissen auseinanderzusetzen, anstatt diese zu verleugnen und uns so annehmen können, wie wir sind, entstehen bleibende Veränderungen.