Selbstregulation statt Eskalation: Wie wir mehr Gelassenheit in unseren Familienalltag integrieren können

Ein bekanntes Szenario vieler Eltern mit ADHS-Kindern: Wir nehmen uns vor, beim nächsten Meltdown unseres Kindes ruhig und gelassen zu bleiben - und fünf Minuten später fahren wir trotzdem aus der Haut, schreien unser Kind an und sprechen unrealistische Bestrafungsmaßnahmen aus. Als Mutter eines neurodivergenten Sohnes weiß ich sehr gut, wovon ich spreche.

Und auch in meinen Workshops für Eltern mit ADHS-Kindern höre ich besagte Problematik immer wieder. Das Bewusstsein und Wissen um ADHS ist zwar vorhanden, aber an der Umsetzung hapert es. Daher ist einer der häufigsten Sätze sowohl in meinen Coachingsitzungen als auch in meinen Workshops wie folgt:

„Ich weiß, dass mein Kind nichts dafür kann. Ich weiß, dass sein Gehirn anders funktioniert. Aber ich fühle mich trotzdem so schnell getriggert. Warum schaffe ich es nicht, ruhig zu bleiben?“

Leider hilft uns allein die Tatsache, dass wir besser verstehen, was im Gehirn unseres Kindes passiert, nur bedingt, unsere eigenen Emotionen in den Griff zu bekommen. Wir wissen vielleicht rational, was exekutive Dysfunktionen bedeuten, was eine verzögerte emotionale Entwicklung ist oder warum Impulskontrolle unseren Kindern schwerfällt.

Aber wenn unser Kind uns anschreit, die Hausaufgaben durch den Raum wirft oder sich weigert, sich für die Schule anzuziehen, dann springt unser eigenes Nervensystem oft direkt in den Alarmmodus.

Und wenn wir selbst neurodivergent sind? Dann potenziert sich dieser Stress um ein Vielfaches.

Warum Selbstregulation so viel wichtiger ist, als wir vielleicht annehmen

Ich habe lange gebraucht, um zu akzeptieren, dass ich nur die Kontrolle über mein eigenes Verhalten habe und nicht über jenes von anderen Leuten.

Ich kann meinen Sohn nicht zwingen, sich zu beruhigen. Ich kann ihn nicht durch Vernunft aus einem Wutanfall herausholen.


Aber ich kann mich selbst durch meine Stimme, meine Lautstärke, meine Energie besser regulieren. Wenn ich ruhig bleibe, hat mein Sohn überhaupt erst die Chance, selbst wieder runterzukommen. Aber wenn ich schreie, eskaliert die Situation normalerweise vollkommen, was für keinen von uns von Vorteil ist.

Selbstregulation bedeutet nicht, dass wir alles perfekt machen.


Es geht vielmehr darum, mit unseren Werten in Verbindung zu bleiben, auf unseren Körper zu hören und genau die Mutter- oder Vaterrolle anzunehmen, die wir gerne verkörpern möchten.


Und es beginnt mit dem Moment bevor wir reagieren.

An manchen Tagen funktioniert es bei mir ausgesprochen gut. Ich atme tief durch, bin geduldig und empathisch und sage mir immer wieder, dass es sich nur um einen schwierigen Moment im Leben meines Sohnes handelt.

Aber an anderen Tagen? Da habe ich mich nicht wirklich gut unter Kontrolle. Ich werde laut. Ich sage Dinge, die mir meine Eltern früher an den Kopf geworfen haben. Dinge, die ich mir geschworen habe, meinen eigenen Kindern nie zu sagen. Und danach fühle ich mich stundenlang schuldig.

Aber ich habe gelernt: Schuldgefühle bringen nichts. Was hilft, ist Reflexion und ein besseres Bewusstsein für schwierige Situationen.

Was mir hilft, mich (meistens) selbst zu regulieren

Hier ein paar Strategien, die mir als Mutter und auch als Coach sehr gut weiterhelfen:

  1. Ein Stärkentagebuch führen
    Wenn sich jeder Tag wie ein Kampf anfühlt, sehen wir schnell nur noch das, was nicht klappt. Ich versuche deshalb, jeden Abend eine Sache aufzuschreiben, die ich an meinem Sohn bewundere, z.B. seine Kreativität, seinen Humor, seine Widerstandskraft, und zwei bis drei Dinge, die an diesem Tag wirklich gut liefen. Das hilft mir, meinen Sohn in einem positiveren Licht zu sehen. Mehr über das Führen eines Stärkentagebuchs in diesem Blogartikel.

  2. Pausen machen (ja, Eltern brauchen auch öfters mal eine Auszeit)
    Wenn ich merke, dass ich kurz davor bin zu explodieren, verlasse ich kurz das Zimmer. Ich sage dann meinem Sohn, dass ich eine kurze Pause brauche, um ihm wieder besser zuhören zu können. Das ist keine Strafe für meinen Sohn, sondern zeigt ihm, wie man verantwortungsvoll mit seinen Gefühlen umgeht

  3. Belohnungen und Konsequenzen vorab planen
    Spontane Strafen bringen selten etwas. Sie sind oft zu hart, unrealistisch oder unklar. Ich schreibe daher mögliche Konsequenzen (und auch Belohnungen!) im Voraus auf ein Whiteboard. Dann muss ich in Stresssituationen nicht lange nachdenken, sondern zeige einfach auf das Whiteboard und frage meinen Sohn: „Erinnerst du dich an unsere Vereinbarung?“

  4. Einen Pakt mit dem Kind schließen
    Ich bin ein großer Fan von Ben Furmans lösungsfokussiertem Ansatz, der in erster Linie das Erlernen von neuen Fähigkeiten betont. Und zwar das gemeinsame Erlernen von neuen Fähigkeiten. Somit treffen mein Sohn und ich regelmäßig eine Vereinbarung, z.B. sage ich zu ihm: „Lass uns beide diese Woche an unserer Wut arbeiten. Du darfst mich erinnern, wenn ich laut werde und ich dich auch.“ Aus einer Regel wird dadurch ein gemeinsames Ziel. Das führt dazu, dass mich auch mein Sohn an unsere Vereinbarung erinnert und einfordert, dass ich nicht immer mit Ungeduld reagieren, wenn er mal wieder keine Lust zum Lesen hat. Mehr zur Methode von Ben Furman in einem der nächsten Blogposts.

  5. Zeit für mich selbst fest einplanen
    Ich weiß, dass es leichter gesagt als getan ist. Aber das Leben mit einem neurodivergenten Kind ist intensiv. Wir brauchen manchmal einfach eine Auszeit. Ich plane daher bewusst kleine Freiräume für mich selbst in meinem Tag mit ein: hier eine halbe Stunden zum Joggen, da eine halbe Stunde, um ein gutes Buch zu lesen. Es geht nicht immer nach Plan, aber ich habe festgestellt, dass ich viel gelassener bin, wenn ich mich selbst nicht komplett vernachlässige.

Der größere Zusammenhang

Unsere Kinder lernen emotionale Selbstregulation, indem sie uns beobachten. Wenn wir sie anschreien, lernen sie: Schreien ist okay, um mir Gehör zu verschaffen.


Wenn wir ruhig bleiben oder uns schnell wieder beruhigen, lernen sie genau das. Wir müssen nicht perfekt sein. Aber wir sollten bewusste Entscheidungen treffen.

Und wenn wir Fehler machen? Dann entschuldigen wir uns bei unseren Kindern dafür. Wir zeigen ihnen damit, dass es okay ist, manchmal auszurasten, aber es macht einen großen Unterschied, welche Verhaltensweisen wir danach an den Tag legen.

Wenn es eine Sache gibt, die ich Eltern sowohl in meinen Workshops und als auch hier auf meinem Blog mitgeben möchte, dann ist es die Erkenntnis, dass Selbstregulation nicht intuitiv ist, sondern einer Menge Übung bedarf.  

Selbstregulation ist keine angeborene Fähigkeit, sie ist kein Talent, sondern eine Fähigkeit, die wir erlernen können.

Wir fangen klein an. Mit unperfekten Schritten. Am besten noch heute!

Denn wenn wir lernen, uns selbst zu regulieren, geben wir unseren Kindern eines der wertvollsten Geschenke mit auf dem Weg: nämlich die Fähigkeit, durch Übung irgendwann einmal eine ähnliche Verhaltensweise an den Tag legen zu können.

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