Zurück zu mehr Selbstvertrauen für mich und meinen neurodivergenten Sohn durch ein kleines Tagebuch

Letzten Sommer war ich an einem absoluten Tiefpunkt angelangt. Ich stand in der Küche, starrte auf den Berg schmutziger Teller im Spülbecken, während meine zwei Söhne sich im Nebenzimmer stritten. Und plötzlich ging einfach gar nichts mehr. Ich hatte keinen Wut- oder Weinanfall, sondern fühlte mich einmal total erschöpft und ausgelaugt.

Mein Sohn war mal wieder mit einem Zettel von der Lehrerin nach Hause gekommen, dass er seine Hausaufgaben vergessen hatte. Zusätzlich hatte sich eine Mutter bei mir beschwert, dass mein Sohn sich ihrer Tochter gegenüber zu frech verhalten hätte. Und zum krönenden Abschluss war mein Sohn diese Woche auch noch aus dem Fußballverein geflogen, weil er durch seine unkonzentrierte Art das ganze Training aufhalten würde. Ich fühlte mich einfach total am Ende: Alles war mir zu viel. Ich wollte mich nur noch unter der Bettdecke verkriechen und meine Ruhe haben.

Als die Kinder endlich im Bett waren, saß ich jedoch an diesem Abend auf dem Sofa und dachte plötzlich: „Warum sehe ich eigentlich immer nur die negativen Dinge? Mein Sohn hat so viele Stärken, die ich regelmäßig ignoriere. Das sollte ich schnellstens ändern.“ Ich nahm einen Stift und schrieb drei Dinge in ein Notizbuch auf:

  • Er hat sich heute Morgen alleine angezogen.

  • Er hat mich umarmt, bevor er zur Schule ging.

  • Er hat „Danke“ gesagt, als meine Mutter ihm einen Keks gegeben hat.

Das war der Anfang meines Stärkentagebuches. Und ehrlich gesagt, hat es wirklich eine ganze Menge verändert, sowohl in unserer Familie als auch in meinem Kopf.

Warum wir Positives so leicht vergessen

Wenn wir ADHS haben - seien es die eigenen Kinder, der Partner oder wir selbst – fühlt es sich oft so an, als würden wir ständig unter Beobachtung stehen. Wir werden ununterbrochen darauf hingewiesen, was nicht gut funktioniert: was wir vergessen haben, was wir nicht gut können, was wir uns nicht zutrauen, etc., so dass wir am Ende selber von unserem Versagen voll und ganz überzeugt sind.

Bevor ich mit dem Stärkentagebuch anfing, war mein Gehirn wie ein Scanner, der alles, was mein Sohn falsch machte, genau registrierte. Ich schlief abends mit den Stimmen anderer Eltern im Kopf ein, die sich bei mir beschwerten, dachte an die vergessenen Hausaufgaben und an die unangenehmen Gespräche, die ich teilweise selbst mit meinen engsten Verwandten führte. Jedoch die Dinge, die gut liefen, nahm ich kaum wahr.

Ein Tagebuch für die kleinen Erfolge

Ich hatte irgendwo gelesen, dass unser Gehirn darauf trainiert ist, Gefahren und Fehler zu erkennen. Aber wir können es umprogrammieren, so dass es auch unsere Erfolge zur Kenntnis nimmt.

Also fing ich klein an: Jeden Abend schrieb ich drei Dinge auf, die bei meinem Sohn und mir an diesem Tag gut gelaufen waren. Z.B. notierte ich an einem Abend, dass

  • er seine Jacke nicht in der Schule vergessen hatte, und dass

  • ich heute nicht mit ihm geschimpft hatte, obwohl ich kurz davor gewesen war.

Am Anfang fühlte es sich komisch an. Ich hatte das Gefühl, ich müsste mir positive Vorkommnisse regelrecht aus den Fingern saugen. Aber mit der Zeit veränderte sich meine Wahrnehmung: Ich fing an, schon tagsüber kleine Erfolgen zu registrieren und sie mir für später zu merken. Und das führte dazu, dass mir immer mehr Positives auffiel, und ich mich langsam immer besser fühlte – meinem Sohn, aber auch mir selbst gegenüber.

Gemeinsam mit meinem Sohn

Eines Abends hatte mein Sohn eine Krise vor dem Einschlafen. Er war frustriert, weil er in der Schule so viele Probleme mit seiner Aufmerksamkeit hatte und sich oft “total dumm” fühlte. Das brach mir das Herz, denn ich konnte genau sehen, wie sehr er sich anstrengte. Wie kreativ und neugierig er trotz seiner negativen Erlebnisse in der Schule war. Also holte ich mein Notizbuch aus dem Wohnzimmer und fragte ihn, ob er etwas Neues mit mir ausprobieren wollte,

Wir saßen auf dem Bett und schrieben drei gute Dinge aus unserem Tag auf. Ich schrieb meine drei kleinen Erfolge auf, und half ihm, seine zu finden:

  • „Ich habe es heute geschafft, ohne Drama mit dem Videospielen aufzuhören.“

  • „Ich habe meinen Helm zum Skateboardtraining mitgenommen.“

  • „Ich habe mich in der Klasse gemeldet, obwohl ich Angst hatte.“

Am Ende lächelte er und war fünf Minuten später eingeschlafen. Seitdem schreiben wir immer wieder gemeinsam in unser Stärkentagebuch.

Es muss nicht perfekt sein

Wir benutzen nicht immer ein Notizbuch. Manchmal schreiben wir Dinge auf kleine Zettel und kleben sie an den Kühlschrank. In der Küche steht ein Einmachglas, in das wir unsere kleinen Erfolge hineintun. An schlechten Tagen nehmen wir ein paar unserer Zettel heraus und lesen sie laut vor.

Wie z.B. vor ein paar Wochen, als ich den ganzen Tag kleine Streitereien mit meinem Sohn hatte und am Abend völlig fertig war. Da zog mein Sohn unerwartet einen unserer Zettel aus dem Glas und las laut vor: „Mama hat mir geholfen, ruhig zu bleiben, als ich wütend war.“ Da musste ich vor Rührung ein paar Tränen verdrücken. Manchmal brauchen wir Beweise, dass das Leben viele gute Seiten hat und schlechte Tage wieder vorübergehen.

Was zählt als Erfolg?

Für mich ist es schon ein Erfolg, wenn ich etwas versucht habe, wenn ich hingegangen bin oder wenn ich hartnäckig geblieben bin.

Ein paar meiner letzten Einträge lauten daher wie folgt:

  • „Ich habe der Lehrerin geschrieben, obwohl ich mich unwohl gefühlt habe.“

  • „Ich habe den Tag überstanden, ohne wichtige Termine abzusagen.“

  • „Ich musste laut über einen Witz lachen.“

Solche Dinge nehmen wir oft gar nicht bewusst wahr, wenn wir sie uns nicht aufschreiben.

Warum das Stärkentagebuch funktioniert

Was ich gelernt habe: Unsere ADHS-Gehirne sind nicht defizitär. Sie sind einfach anders vernetzt, so dass wir schneller denken, oft intensiver fühlen und Reize anders verarbeiten.  Und deshalb übersehen wir oft die kleinen Erfolge und unscheinbaren Beweise dafür, dass wir trotz allem eigentlich ziemlich gut im Leben klar kommen.

Das Stärkentagebuch hat mir geholfen, mir diese Momente bewusst zu machen und meinen Sohn und mich in einem viel positiveren Licht zu sehen. Es hat mein Selbstvertrauen in meine Fähigkeiten als Mutter gestärkt und meinem Sohn neue Lebensfreude gegeben. Fortschritt muss nicht immer laut und dramatisch daherkommen. Manchmal reicht es, wenn wir morgens wieder aufstehen und es nochmal versuchen.

Wenn wir also das Gefühl haben, dass die Welt mal wieder über uns zusammenbricht, ist das Führen eines Stärkentagebuches eine Möglichkeit, unsere Stimmung nachhaltig zu verbessern. Wir schreiben einfach drei positive Dinge auf. Jeden Abend. In unser Tagebuch. Oder auf einen Zettel für unser Einmachglas. Oder auf eine Klorolle. Unserer Kreativität sind keine Grenzen gesetzt.

Und wir werden erkennen: Wir und unsere Kinder meistern das Leben viel besser als wir bis jetzt angenommen haben. Und das sollten wir uns immer wieder vor Augen führen, wenn es uns nicht gut geht.

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