ADHS-Kinder und Medienkonsum: Ein Balanceakt
Mein Sohn und ich hatten früher oft heftige Auseinandersetzungen darüber, wie viel Zeit er vor dem Bildschirm verbringen durfte. Mit sieben Jahren drehte sich bei ihm alles um Minecraft oder Roblox. Wäre er älter gewesen, hätten wir vermutlich auch über Social Media wie TikTok oder YouTube gestritten. Ich war innerlich ziemlich hin- und hergerissen: Einerseits wirkten Bildschirme unglaublich beruhigend auf meinen Sohn, andererseits sorgten sie bei uns zu Hause ununterbrochen für Spannungen. Kein Wunder also, dass ich mir ständig Sorgen machte, besonders dann, wenn mein Sohn so tief in seine Spielwelten versunken war, dass er alles um sich herum vergaß und nicht aufhören wollte, wenn seine Zeit abgelaufen war.
Medienkonsum gehört zu den Themen, über die sich Eltern neurodivergenter Kinder sehr oft den Kopf zerbrechen. Vor allem Kinder mit ADHS können sich meistens nur schwer von Videospielen, Fernsehserien oder Social Media losreißen und haben oft Probleme, ihre Gefühle dabei zu kontrollieren. Als ADHS-Coach und Mutter eines Jungen, der von seinen Videospielen regelrecht besessen ist, beschäftige ich mich ständig intensiv mit dem Thema Mediennutzung bei neurodivergenten Kindern und gehe vor allem der Frage nach: Schaden Videospiele der kognitiven Entwicklung unserer Kinder? Sollten wir Videospiele vielleicht komplett verbieten, wenn unsere Kinder so gut wie nicht in der Lage sind, ihre Spiele zu beenden? Oder ist es überhaupt realistisch, starre Regeln aufzustellen?
Wie bei fast allem, was mit ADHS und Erziehung zu tun hat, ist die Antwort komplex. Es gibt leider keine Universallösung. Auch die Wissenschaft hat hier keine eindeutige Antwort für uns parat. Im Endeffekt gibt es nur vage Empfehlungen, an die wir uns halten und nach denen wir unseren individuellen Umgang mit Medien ausrichten können.
Was sagt die Wissenschaft?
Wenn es um ADHS und Mediennutzung geht, steckt die Forschung noch in den Kinderschuhen und ist weit davon entfernt, eindeutige Aussagen treffen zu können. Studien zeigen, dass Kinder mit ADHS häufiger zu übermäßigem Bildschirmkonsum neigen und stärker in Videospiele eintauchen als neurotypische Kinder. Übermäßige Nutzung kann laut einiger Forschungserkenntnisse Konzentrationsprobleme, Schlafstörungen und Verhaltensauffälligkeiten verschärfen. Das Schlüsselwort hier ist allerdings übermäßig.
Einige Studien zeigen weiterhin klare Vorteile auf; So bieten Videospiele etwa genau jene unmittelbare Rückmeldung und intensive Stimulation, nach der viele ADHS-Kinder regelrecht süchtig sind. Manche Spiele können, zumindest kurzfristig, Reaktionsfähigkeit, Arbeitsgedächtnis und andere kognitive Fähigkeiten fördern.
Die US-Arzneimittelbehörde FDA hat ein Videospiel namens EndeavorRx als rezeptpflichtige Therapie für Kinder mit ADHS zugelassen. Das zeigt, dass Bildschirme nicht per se schlecht sind, sondern unter bestimmten Bedingungen sogar therapeutisch sinnvoll sein können.
Warum sind Kinder mit ADHS so fasziniert von Bildschirmen?
Kinder mit ADHS sind ständig auf der Suche nach neuen Reizen. Videospiele bieten ihnen genau diese Reize gepaart mit klaren Zielen, schnellen Belohnungen und vorhersehbarer Struktur. Anders als Schule oder familiäre Interaktionen, die oft auf Kinder mit ADHS chaotisch oder undurchsichtig wirken, sind Games einfach: Tu X, um Y zu bekommen. Für Kinder, die mit Motivation, Zeitmanagement und Konzentration zu kämpfen haben, vermitteln Videospiele ein Gefühl von Kontrolle und Erfolg.
Es ist also kein Wunder, dass Bildschirme oft als eine Art Selbstregulation dienen, als ein Rückzugsort, um vom Tag abzuschalten, Stress abzubauen oder dem Gefühl zu entkommen, ständig zu scheitern. Aber wie bei allen Bewältigungsstrategien kann auch hier das Positive in negatives Verhalten umschlagen. Somit besteht die Herausforderung für uns Eltern darin, zwischen gesunder Selbstregulation und problematischer Abhängigkeit zu unterscheiden.
Sollten wir die Bildschirmzeit unserer Kinder begrenzen?
Kurz gesagt: Ja, das sollten wir auf alle Fälle, aber wir sollten dies mit großem Einfühlungsvermögen, Flexibilität und offenen Gesprächen mit unseren Kindern tun.
Wenn wir versuchen, starre Zeitlimits durchzusetzen, ohne das „Warum“ zu erklären oder unser Kind mit einzubeziehen, kann das nicht selten nach hinten losgehen – insbesondere bei Kindern, die ohnehin dazu neigen, unsere Grenzen zu testen. Bei meinem Sohn habe ich schnell gemerkt, dass drastische Einschränkungen seiner Bildschirmzeit oder gar das Wegnehmen von Geräten sowohl zu viel Frust bei ihm führten als auch zu kreativen Strategien, wie die Verbote umgangen werden können. Wenn ich ihm also einfach Regeln aufdrückte, ohne sie mit ihm zu besprechen, suchte er sofort nach Möglichkeiten, doch irgendwie heimlich an sein iPad oder an ein Handy zu kommen. Und natürlich wird er technisch gesehen immer fitter, so dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis er automatische Zeitbegrenzungen oder Firewalls problemlos umgehen kann.
Statt die Bildschirmzeit als unseren Kriegsschauplatz zu sehen, wo es um Kontrolle und Regelbefolgung geht, habe ich begonnen, sie als Gelegenheit für uns beide zu sehen, unsere Beziehung zu stärken und dadurch das Vertrauen meines Sohns weiter auszubauen.
Wie sehen gesunde Grenzen aus?
Es gibt kein Patentrezept, aber hier sind ein paar Strategien, die sich in meiner Familie und bei etlichen meiner Klienten bewährt haben:
Gemeinsam einen Medienplan erstellen
Wir setzen uns zusammen mit unseren Kindern hin und legen die genauen Zeiten fest, zu denen Bildschirme benutzt werden dürfen – und wann nicht, z.B. während der Schule, den Hausarbeiten, den Mahlzeiten, beim Sport, im Bett, etc. Wenn unsere Kinder die Möglichkeit haben, den Plan mitzugestalten, sind die Chancen größer, dass sie die festgelegten Regeln auch akzeptieren.Bildschirmzeit als Belohnung
Videospiele motivieren viele Kinder mit ADHS stark. Daher kann es eine gute Strategie sein, Bildschirmzeit als Belohnung zu benutzen: „Wenn du deine Hausaufgaben gemacht und dein Zimmer aufgeräumt hast, kannst du 45 Minuten spielen.“Flexibel bleiben
Manche Tage sind schwieriger als andere. Wenn unsere Kinder emotional durchhängen oder sozial überfordert sind, kann Zeit am Bildschirm helfen, sich zu entspannen. Das heißt nicht, dass diese Zeit „grenzenlos“ ausgeweitet werden soll, aber ein bisschen Flexibilität kann oft Wunder wirken.Alternative Leidenschaften finden
ADHS-Gehirne lieben Stimulation. Sport, Musik, Tiere, Bastelprojekte oder LEGO können genauso spannend sein wie ein Videospiel oder soziale Medien. Die Schwierigkeit liegt darin, eine Beschäftigung oder Aktivität zu finden, die ähnlich gerne wie jene am Bildschirm verrichtet wird.Konsequent, aber freundlich und geduldig bleiben
Es ist wichtig, unseren Kindern zu erklären, warum es bestimmte Regeln gibt, und was passiert, wenn Absprachen gebrochen werden. Konsequenz ist wichtig, aber genauso wichtig sind Wärme und Geduld unseren Kindern gegenüber. Regeln ohne eine starke Beziehung zu unseren Kindern führen nicht selten zu Rebellion und ausgeprägtem Trotzverhalten.
Enge Beziehung sollte vor elterlicher Kontrolle kommen
Die Grundlage jeder guten Strategie mit einem ADHS-Kind ist eine starke Beziehung. Unsere Kinder müssen sich gehört, verstanden und sicher fühlen, auch (oder gerade) wenn ihr Verhalten schwierig ist. Statt direkt zu schimpfen, wenn sie wieder zu lang gespielt haben, hilft oft Neugier oder Verständnis:
„Was macht dir an dem Spiel am meisten Spaß?“
„Wie fühlst du dich dabei?“
„Was macht es so schwer für dich, aufzuhören, wenn die Zeit um ist?“
Wenn wir echtes Interesse an der Welt unserer Kinder zeigen, öffnen sich Türen für ein mögliches Miteinander und gegenseitiges Verständnis. Bei meinem Sohn habe ich gemerkt, dass er vor allem dann zum Tablet greift, wenn er sich ängstlich oder gelangweilt fühlt. Und dass Gaming ihm einen Zugang zu sozialen Interaktionen gibt, den er offline nicht so leicht findet.
Ich bin mittlerweile der festen Überzeugung, dass eine gute Beziehung zu unseren Kindern im Vordergrund stehen muss. Wenn wir neugierig bleiben, statt wütend zu werden, geht es weniger um Kontrolle, sondern um ein Miteinander, dass uns enger miteinander verbindet.
Interessen jenseits des Bildschirms fördern
Kinder von Bildschirmen wegzubekommen heißt nicht, dass wir sie verteufeln müssen. Vielmehr können wir neue Wege finden, wie unsere Kinder ihre Stärken und Interessen auch offline entdecken:
Auf ihre Stärken setzen. Kinder mit ADHS blühen oft bei kreativen oder körperlichen Aktivitäten auf – Theater, Musik, Coding, Klettern oder Karate.
Freunde mit ins Boot holen. Mit Freunden gemeinsame Offline-Aktivitäten planen, z. B. Ausflüge, Bastelprojekte oder Sport.
Vorbild für unsere Kinder sein. Wie gehen wir selber mit Tablets und Handys um? Legen wir manchmal unser Handy bewusst zur Seite, um uns für andere Dinge Zeit zu nehmen? Sind wir unseren Kindern gute Vorbilder?
Kleine Schritte. Wir können unsere Kinder ermutigen, vor dem Spielen 10–15 Minuten etwas anderes zu tun. Auf die Dauer können wir diese Zeit verlängern, so dass unsere Kinder mehr Toleranz für weniger-stimulierende Aktivitäten aufbauen.
Abschließende Gedanken
Ich habe für mich erkannt, dass der Umgang mit Medien bei meinem Sohn nicht schwarz oder weiß ist. Ich weiß, dass zu viel Bildschirmzeit schaden kann, aber sie kann auch beruhigen, bestärken oder sogar zur Entwicklung wichtiger Fähigkeiten beitragen. Es geht mir daher nicht darum, Bildschirme zu verbannen, sondern mit meinem Sohn im Gespräch zu bleiben, zusammen sinnvolle Regeln zu entwickeln und ihn dabei zu unterstützen, ein erfülltes Leben mit Medien zu führen.
Denn am Ende ist unsere Aufgabe nicht, alles zu kontrollieren, sondern die Beziehung zu unseren Kindern zu stärken, damit sie uns vertrauen und unsere Erklärungen verständig aufnehmen und, wenn wir Glück haben, auch dementsprechend umsetzen.