Soll ich’s wirklich sagen? Der Balanceakt mit ADHS am Arbeitsplatz

Fast in jedem meiner Workshops über ADHS in der Arbeitswelt stellt einer der Teilnehmer früher oder später die folgende Frage: Soll ich meinen Kollegen und Vorgesetzten mitteilen, dass ich ADHS habe? und sorgt regelmäßig für lebhafte Diskussionen.

Die Antworten meiner Teilnehmer sind immer äußerst gemischt: Manche haben in der Vergangenheit durchwegs positive Erfahrungen gemacht und berichten von Momenten echter Verbindung, Verständnis und Unterstützung durch ihre Kollegen. Andere jedoch schütteln entschieden den Kopf und lehnen eine Offenlegung rundheraus ab, weil sie auf ihre Ehrlichkeit hin nicht nur kein Verständnis erhalten haben, sondern plötzlich abgewertet, belächelt oder sogar benachteiligt wurden.

Die konträren Reaktionen meiner Workshop-Teilnehmer machen schnell klar: Eine allgemeingültige Antwort gibt es leider nicht. Ob wir offen mit unserer ADHS umgehen, hängt von vielen Faktoren ab, wie z.B. von dem spezifischen Klima in unserem Unternehmen, unserer individuellen Stellung dort, unserer Beziehung zu Kollegen und unserem Chef, unseren beruflichen Zielen und oft auch von unserem Bauchgefühl, das uns recht zuverlässig mitteilt, ob es ratsam ist, uns zu öffnen. Es ist also eine ganz persönliche Entscheidung, die wir zu fällen haben, was es nicht gerade leichter macht.

Was uns die Forschung rät

Bis jetzt gibt es leider nur wenige Studien, die sich mit der Offenlegung von ADHS in der Arbeitswelt beschäftigen. Und auch diese Studien geben uns meist keine klaren Antworten: Wie bereits erwähnt, hänge es von dem Klima unserer Arbeitsstelle ab, ob wir den Schritt wagen oder lieber schweigen sollten. Wenn wir uns sicher und gut aufgehoben fühlten, falle es uns viel leichter, über unsere Diagnose auf der Arbeit zu sprechen – und die Ergebnisse seien nicht selten äußerst positiv. Laut der Forschung führe Offenheit in einer für uns positiven Umgebung zu mehr Verständnis, zu passenderen Rahmenbedingungen und manchmal sogar zu besserer Leistungen und mehr Wohlbefinden.

Andererseits sei die Stigmatisierung von Menschen mit ADHS nach wie vor ein großes Problem. Manche Arbeitnehmer berichteten, dass sie nach der Offenlegung ihrer Diagnose als  weniger leistungsfähig wahrgenommen oder bei Beförderungen übergangen wurden, was sie als äußerst frustrierend und unfair empfanden. Forscher bezeichnen dies als das „zweischneidige Schwert“ der Offenlegung: Es gäbe hier kein richtig oder falsch, sondern nur eine individuelle Abwägung unserer spezifischen Situation. Ehrlichkeit könne ein echter Game-Changer sein – aber eben nur dann, wenn der Zeitpunkt richtig gewählt sei und uns unser Umfeld und unsere Kollegen wohlgesonnen seien.

Daher finde ich es sinnvoll, sich eine Check-Liste mit Vor- und Nachteilen zu erstellen, um letztendlich eine gut informierte Entscheidung treffen zu können.

Warum es hilfreich sein kann, seine ADHS-Diagnose offen zu thematisieren

1. Aufklärung schaffen

Wenn wir über unsere ADHS-Diagnose und die Auswirkungen auf unser Leben sprechen, geben wir wichtige Informationen an unsere Mitmenschen weiter. Viele unserer Kollegen haben womöglich nur geringe Kenntnisse darüber, wie ADHS im Erwachsenenalter aussieht. Indem wir ihnen sowohl von unseren Stärken als auch von unseren Schwierigkeiten erzählen, bauen wir Vorurteile ab und schaffen Raum für Empathie und Verständnis.

2. Unterstützung bekommen

Unser Alltag im Berufsleben ist oft voller unausgesprochener Erwartungen – Deadlines einhalten, Ordnung schaffen, Prioritäten setzen, Dokumente richtig ausfüllen, etc. Für uns mit ADHS fühlt sich das manchmal wie ein unüberwindbarer Berg an, vor dem wir nicht selten verzweifeln. Wenn wir offen über unsere Herausforderungen sprechen, wird es einfacher für uns, Unterstützung bei der Arbeit zu erhalten: Wir können darum bitten, uns größere Aufgaben in kleinere Schritte einteilen zu dürfen, Reminders zu nutzen, um wichtige Termine nicht zu vergessen, oder flexiblere Arbeitsmodelle für unsere spezifische Bedürfnisse zu finden. Wenn wir uns bei der Arbeit wohler fühlen, weil wir diese nach unserem Bedarf ausrichten können, entlastet das nicht nur uns, sondern stärkt oft das ganze Team und erhöht die Produktivität.

3. Stärken sichtbar machen

Wenn andere Bescheid über unsere ADHS wissen und bereit sind, unsere Bedürfnisse anzuerkennen, können wir oft unsere Stärken mehr in den Vordergrund bringen. Wir haben u.a. die Möglichkeit, bestimmte Tätigkeiten zu übernehmen, die wir besonders gut beherrschen. Vielleicht liegt uns administrative Arbeit so gar nicht, aber wir sind genial im Brainstorming oder im kreativen Problemlösen. Ein Gespräch mit unseren Kollegen und unserem Chef kann uns da helfen, in Bereichen eingesetzt zu werden, wo wir den größten Mehrwert für unser Team oder Unternehmen schaffen können.

4. Echte Beziehungen aufbauen

Wenn wir uns anderen mitteilen, dann kann das unsere Beziehung zu unseren Kollegen vertiefen. Natürlich klappt das nicht immer, aber oft entsteht durch unsere Offenheit mehr Nähe, Menschlichkeit und Zugehörigkeit.

Warum Offenheit riskant sein kann

1. Nicht ernst genommen werden

Auch heute noch treffen wir nicht selten auf Menschen, die unsere ADHS-Diagnose schlichtweg ablehnen oder in ADHS sogar eine Ausrede für Faulheit, Unwilligkeit und Inkompetenz sehen. Falsche Bilder, die in den Medien verbreitet werden, tragen ebenfalls dazu bei, dass wir nicht immer das nötige Verständnis von der Außenwelt  erhalten, sondern auf Skepsis stoßen, was sehr verletzend sein kann.  

2. Als „defizitär“ gesehen werden

Weiterhin kann die Offenlegung unserer Diagnose dazu führen, dass wir plötzlich auf unsere Diagnose reduziert werden, die als negativ gesehen wird. Nicht unsere vielen Stärken, mit denen ADHS zweifellos einhergeht, sondern lediglich unsere Schwächen werden in Betracht gezogen und unsere Person als defizitär eingestuft. Das kann uns schon im Bewerbungsgespräch bereits zum Verhängnis werden oder intern dazu führen, dass interessante Aufgaben an andere Kollegen vergeben werden, obwohl wir gerade für diese Aufgaben besonders gut geeignet wären.   

3. Verpasste Entwicklungschancen

Doch nicht nur spannende Aufgaben werden uns oft verwehrt – dies kann sich auch auf gravierendere Dinge wie Beförderungen oder Gehaltserhöhungen auswirken, bei denen wir geflissentlich übergangen werden. Denn plötzlich werden wir nicht mehr als Mensch und Arbeitskollege wahrgenommen, sondern mit dem Label „Risiko“ belegt, was unsere Entwicklung in einem Unternehmen bremst und uns hemmt, auf der Karriereleiter weiter nach oben zu gelangen.

4. Emotionale Verletzlichkeit

Offenheit macht uns verletzlich. Wenn das Verständnis für unsere Situation von Kollegen und unserem Chef ausbleibt, fühlt sich diese Reaktion oft niederschmetternd für uns an und kann uns in Depressionen stürzen. Wir fühlen uns an unserem Arbeitsplatz nicht mehr sicher, ziehen uns zurück und verrichten unsere Aufgaben mit weniger Elan oder Selbstvertrauen. Es kommt zu einer negativen Spirale nach unten, die letztendlich genau das bestätigt, was wir vermeiden wollten: ADHS als einen Makel zu sehen, die zu geringerer Produktivität und Effizienz führt.

Was bedeutet das nun für unsere Entscheidungsfindung?

Ob wir ADHS im Job offenlegen oder nicht, ist keine Ja-Nein-Frage. Es geht weniger um „Soll ich?“ und mehr um „Fühlt es sich für mich in diesem Umfeld, bei diesen Menschen und in dieser Phase meines Lebens richtig an?“

Für manche bedeutet Offenheit Entlastung, Unterstützung und authentisches Arbeiten. Für andere bringt sie Stigma und Rückschläge. Beides ist real und beides zählt.

Wichtig ist, dass wir uns bewusst die Zeit nehmen, die Vor- und Nachteile abzuwägen und uns die Freiheit geben, individuell zu entscheiden. Offenlegung ist keine Alles-oder-nichts-Sache: Wir können auch nur einer vertrauten Kollegin etwas sagen, ohne gleich das ganze Team einzuweihen.

Was auch immer wir wählen: ADHS ist kein Makel. Es ist ein Teil von uns und wir haben jedes Recht, uns ein Arbeitsleben zu gestalten, das sowohl unsere Herausforderungen als auch unsere Stärken berücksichtigt und uns ermöglicht, unser volles Potenzial einzubringen – auf eine Weise, die authentisch ist und zu uns passt. Wenn ich dir auf deinem Weg dabei helfen kann, eine für dich verpassende Entscheidung zu treffen, melde dich jederzeit, und wir sprechen miteinander!

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