„Moment … worum ging’s nochmal?“ 13 Tipps für mehr Konzentration mit ADHS
„Ich kann mich einfach nicht konzentrieren.“ – ein Satz, den ich regelmäßig in meiner Coaching-Praxis zu hören bekomme.
Wenn du Schüler oder Student bist und in der Klasse oder im Hörsaal sitzt, während vorne jemand seit gefühlten Stunden über ein Thema redet, das dich kein bisschen interessiert, dann weißt du genau, wovon ich spreche. Unser Körper ist zwar präsent, aber unsere Gedanken schweifen in alle möglichen Richtungen ab und befinden sich irgendwo zwischen Wochenendplanung, der Mail, die wir noch nicht beantwortet haben, und der Frage, ob das Klickgeräusch unseres Sitznachbarn mit seinem Stift vielleicht eine subtile Form psychologischer Kriegsführung ist.
Für Schüler und Studierende mit ADHS kann es sich anfühlen, als würden wir versuchen, fließendes Wasser in unseren Händen zu halten. Je mehr wir uns bemühen, desto schneller scheint es zwischen unseren Fingern hindurchzurinnen. Aber auch im Berufsleben mit seinen vielen (oft unnützen) Meetings erleben wir ungewollte Unaufmerksamkeit oft tagtäglich und fragen uns, wie wir es schaffen, trotz großer Langeweile aufnahmefähig zu bleiben.
Was die Forschung darüber sagt, warum Konzentration mit ADHS so schwer ist
In den letzten Jahren haben Neurowissenschaftler gut nachvollziehbare Erklärungen dafür gefunden, warum Aufmerksamkeit bei ADHS so schwer aufrechtzuerhalten ist. Dabei hat es nichts mit Faulheit oder mangelnder Willenskraft zu tun, sondern es ist vielmehr ein strukturelles, physiologisches Problem.
Ein wichtiger Forschungszweig beschäftigt sich mit dem sogenannten Mind Wandering, womit das unwillkürliche Abschweifen der Gedanken gemeint ist. Eine Studie im Journal of Attention Disorders (Lanier, Noyes, Biederman et al., 2021) kommt zu dem Ergebnis, dass Menschen mit ADHS häufiger spontanes Mind Wandering erleben: Ihre Gedanken driften ab, selbst dann, wenn sie sich eigentlich konzentrieren wollen. Das ist nicht nur ärgerlich, sondern beeinträchtigt ihren Alltag enorm, sei es in Schule, Studium, Beruf oder in ihren Beziehungen.
Andere Studien betrachten die Funktionsweise von Gehirnnetzwerken bei ADHS. Die Studie Resting-State Functional Connectivity Predicts Attention Problems in Children (ABCD Study, 2023) fand z. B. heraus, dass Kinder mit stärkeren Aufmerksamkeitsproblemen veränderte Verbindungen zwischen zwei Netzwerken zeigen: dem Default Mode Network (aktiv, wenn das Gehirn „abschweift“) und dem dorsalen Aufmerksamkeitsnetzwerk (zuständig für fokussierte Aufmerksamkeit). Wenn das Default Mode Network nicht ausreichend gedämpft wird, bleibt unser Gehirn aktiv, obwohl wir uns eigentlich konzentrieren wollen – und wir haben unsere Aufmerksamkeit nicht mehr unter Kontrolle.
Auch spannend: Die Studie Establishing the Attention-Distractibility Trait von 2015 zeigt, dass Menschen mit ausgeprägteren ADHS-Symptomen anfälliger für äußere Reize sind, z. B. für visuelle Reize, Geräusche oder Bewegungen. Jedoch bei komplexeren oder interessanten Aufgaben, die die Probanden zu erledigen hatten, konnte eine geringere Ablenkung festgestellt werden, weil die Personen intensiver bei der Sache waren.
Zusammengefasst lässt sich somit sagen: Konzentrationsprobleme entstehen durch ein Zusammenspiel von
a) Gehirnnetzwerken, die nicht verlässlich zwischen „Ruhemodus“ und „Aufmerksamkeitsmodus“ hin- und herwechseln,
b) einer erhöhten Ablenkbarkeit durch äußere Reize und
c) Aufgaben, die das Gehirn nicht ausreichend stimulieren.
Trotz dieser vermeintlichen Schwächen lässt sich unsere Aufmerksamkeit mit einer Reihe von Strategien zu einem gewissen Grad steuern und austricksen. Das funktioniert natürlich nicht immer 100%, aber oft gut genug, so dass wir unsere Aufgaben pünktlich beenden können. Im Folgenden sind dreizehn Tipps, die sich in meiner Arbeit mit Klienten (und auch bei mir selbst) sehr bewährt haben und die sowohl in Schule, Uni oder bei der Arbeit gute Erfolge verzeichnen lassen.
13 Strategien, um sich trotz ADHS besser konzentrieren zu können
1. Wir akzeptieren, dass unsere Aufmerksamkeit abschweifen wird und planen das konkret ein
Es ist generell nicht einfach, sich länger intensiv auf eine Sache zu konzentrieren. Aber anstatt gegen unsere vermeintliche Schwäche anzukämpfen und uns jedes Mal schuldig zu fühlen, wenn unsere Gedanken abschweifen, sollten wir die Unaufmerksamkeit ganz einfach mit einkalkulieren. Bevor der Unterricht oder die Vorlesung beginnt, können wir uns sagen: „Es ist völlig okay, nicht die ganze Zeit bei der Sache zu sein. Sobald ich bemerke, dass ich abschweife, versuche ich mich einfach wieder so gut es geht zurückzuholen.“
Diese kleine Veränderung in unserem Denken – von Frustration hin zu Akzeptanz – kann eine ganz andere Stimmung bei uns hervorrufen. Sie verwandelt nämlich die verhasste Ablenkung von einem moralischen Versagen in das, was sie wirklich ist: ein normaler Teil unseres Gehirns, wenn wir ADHS haben.
2. Wir wählen unseren Sitzplatz strategisch
Wenn möglich, sollten wir so sitzen, dass wir die Lehrperson gut im Blick haben, aber nicht unbedingt unsere Klassenkameraden oder Mitstudenten. Das ist für manche Leute vorne, aber nicht zwangsläufig in der ersten Reihe, wenn uns das stresst. Weniger visuelle Ablenkung bedeutet eine geringere Chance, dass wir abschweifen.
Manche von uns kommen aber am besten dann zurecht, wenn sie eine Wand im Rücken haben (also keine Bewegung im peripheren Blickfeld sehen), andere bevorzugen einen Platz am Gang, um sich unauffällig bewegen oder strecken zu können. Am besten experimentieren wir ein bisschen mit unserem Sitzplatz, denn unsere Umgebung hat mehr Einfluss auf unsere Konzentrationsfähigkeit, als wir womöglich annehmen.
3. Wir beschäftigen unsere Hände
Bewegung als Teil des Unterrichts ist nichts Schlechtes. Im Gegenteil: Für ADHS-Gehirne ist es essentiell, damit wir uns besser konzentrieren können. Deshalb sollten wir Bewegung in unseren Schul- und Unialltag einbauen, z.B. durch einen Stressball, ein kleines Fidget-Spielzeug oder indem wir beim Zuhören auf ein Blatt kritzeln, um besser bei der Sachen bleiben zu können.
Eine meiner Klientinnen sagte einmal: „Meine besten Noten hatte ich in dem Semester, als ich Gelstifte entdeckt habe.“ Auch Kaugummikauen kann hilfreich sein. Es geht nicht um Ablenkung, sondern um Stimulation. Das richtige Maß an sensorischem Input kann uns tatsächlich helfen, uns besser zu konzentrieren und unsere Gedanken unter Kontrolle zu halten.
4. Wir verfassen Mikro-Notizen…
Wenn wir leicht ablenkbar sind, hilft es nicht, wenn wir versuchen, jedes einzelne Wort einer Vorlesung mitzuschreiben. Stattdessen ist es eine bessere Idee, nur Schlüsselwörter oder kurze Phrasen zu notieren, um den groben Verlauf der Klasse oder Vorlesung zu skizzieren. Wir können uns das so wie bei Hänsel und Gretel mit der Brotkrumenspur vorstellen - wir hinterlassen kleine Hinweise, denen wir später folgen können.
5. …oder erstellen kreative „Mind-Maps“
Eine Alternative zu klassischen Mitschriften ist das Erstellen von Mind-Maps: Wir schreiben das Hauptthema der Stunde in die Mitte eines Blatt Papiers und setzen weitere Details mit Pfeilen, Skizzen und Farben um das Thema herum ein. Diese Methode ähnelt der Art und Weise, wie unsere ADHS-Gehirne von Natur aus denken und Verbindungen herstellen – visuell und assoziativ. So passen wir unsere Notizen an die Arbeitsweise unseres Gehirns an, anstatt uns in ein lineares Format zu zwingen.
6. Wir „verankern“ unsere Aufmerksamkeit mit sensorischen Tools
Ein kleines, unauffälliges sensorisches Hilfsmittel wie ein Armband, ein glatter Stein oder ein leicht duftendes ätherisches Öl am Handgelenk kann äußerst hilfreich sein. Wenn wir merken, dass unsere Gedanken abschweifen, können wir es kurz berühren oder daran riechen und uns dadurch wieder in die Wirklichkeit zurückbringen. Es ist ein einfacher Achtsamkeitsimpuls, der uns ohne Zwang an unsere momentane Aufgabe erinnert. Sensorische Anker aktivieren den präfrontalen Kortex und das limbische System und erden damit buchstäblich unser Bewusstsein.
7. Wir verwenden „mentale Lesezeichen“, statt Aufmerksamkeit zu erzwingen
Wenn wir feststellen, dass wir abgeschweift sind, können wir an der Stelle unserer Aufzeichnungen, an der wir den Faden verloren haben, ein kleines Zeichen setzen, z.B. einen Punkt oder ein Sternchen. Wir brauchen weder in Panik zu geraten noch zu versuchen, den verpassten Teil im Kopf nachzuholen. Wir markieren einfach die Stelle, konzentrieren uns wieder und machen weiter.
Später können wir diese Stellen gezielt nacharbeiten. Das bewahrt uns davor, in Selbstkritik abzurutschen („Mensch, da hab ich ja schon wieder etwas verpasst!“) und macht die Nachbereitung der Notizen effizienter.
8. Wir bewegen uns, wann immer es möglich ist
Wir können zwar nicht mitten in der Vorlesung Liegestützen machen, aber kleine Bewegungen können wir trotzdem irgendwie integrieren: Wir dehnen die Beine, rollen die Schultern, atmen tief durch oder strecken die Arme in die Luft, wenn die Lehrperson gerade etwas an die Tafel schreibt. Diese winzigen Resets beruhigen unser Nervensystem und schärfen unsere Aufmerksamkeit.
Und wenn uns unsere Konzentrationsfähigkeit komplett verlässt, ist es hilfreich, mal kurz auf die Toilette zu gehen oder draußen im Flur ein paar Treppenstufen rauf und runter zu laufen. Bewegung hilft, unseren Dopaminspiegel zu regulieren, und wird daher auch das natürliche Ritalin genannt.
9. Wir kommunizieren mit der Langeweile
Wir wissen, dass viele Unterrichtsstunden leider sehr langweilig sind. Aber Langeweile muss nicht unbedingt unser Feind sein. Sie ist einfach ein Signal dafür, dass unser Gehirn nach mehr Anregung verlangt. Wenn es uns gelingt, können wir versuchen, diese Langeweile in Neugier zu verwandeln. Wir können uns z.B. fragen: „Okay, wenn ich dieses Thema unterrichten müsste, wie könnte ich es interessanter machen?“ oder „Wie hängt das Thema mit etwas zusammen, für das ich mich wirklich interessiere?“
Sobald wir anfangen, uns mit dem Stoff spielerisch zu beschäftigen, schalten wir unser Gehirn wieder aktiv ein und können so unsere Aufmerksamkeit wieder besser kontrollieren.
10. Wir nutzen „Body Doubling“ im Unterricht
Was bedeutet „Body Doubling“? Body Doubling bedeutet, gemeinsam mit jemand anderem zu arbeiten, um besser bei der Sache bleiben zu können. Im Unterricht kann das bedeuten, dass wir uns mit einem Freund absprechen, der uns bei der Konzentration hilft. Wenn wir z.B. sichtbar abschweifen, kann uns der Sitznachbar durch einen leichten Stupser wieder in die Wirklichkeit zurückholen. Oder wir können sicherstellen, dass wir eine Aufgabe auch wirklich beenden, indem wir beide am Ball bleiben.
Und wenn gerade niemand da ist, mit dem wir zusammenarbeiten können, gibt es auch virtuelle Möglichkeiten. Wir können an stillen Coworking-Zooms teilnehmen, sogenannten Focus-Räumen auf Discord beitreten oder Plattformen wie Focusmate nutzen. Die bloße Anwesenheit einer anderen Person, die selbst konzentriert arbeitet, schafft eine Atmosphäre, die unsere Aufmerksamkeit stabilisiert und uns zum Dranbleiben anregt.
11. Wir geben unserem Gehirn eine Belohnung
Einer meiner Klienten sagte einmal: „Ich kann mich nicht dazu bringen, drei Stunden am Stück zu lernen, aber ich schaffe 20 Minuten, wenn ich weiß, dass ich danach ein Stück meiner Lieblingsschokolade bekomme.“
Unsere ADHS-Gehirne reagieren oft sehr positiv auf Belohnungen. Es macht daher Sinn, angenehme Dinge nach dem Unterricht einzuplanen, z.B. einen besonderen Snack, einen Spaziergang, Zeit auf sozialen Medien oder unsere Lieblingsplaylist. Wenn wir wissen, dass uns eine Belohnung erwartet, arbeitet unser Gehirn viel eher mit uns zusammen und unsere Konzentrationsfähigkeit steigt.
12. Wir managen unser inneres Gedankenchaos
Manchmal ist es nicht der Lärm um uns herum, sondern der Lärm in unserem Kopf, der uns am Arbeiten hindert. Wenn wir merken, dass uns unsere 1000 Gedanken oder Ideen nicht weiterkommen lassen, können wir sie schnell in ein sogenanntes „Brain Dump“-Notizbuch schreiben. Damit sagen wir unserem Gehirn: „Okay, ich vergesse diese tollen Ideen nicht, aber jetzt geht’s zurück zum Unterricht.“ Dieser kleine Trick gibt unserem Gehirn die Erlaubnis, die Gedanken kurz beiseite zu legen, anstatt gegen sie anzukämpfen und uns ständig selbst zu ermahnen.
13. Wir bitten aktiv um Hilfe
Wenn wir ADHS haben, ist es wichtig, dass wir uns zusätzlich Hilfe holen, um leichter durchs Leben zu kommen. Vielleicht müssen wir um Erlaubnis fragen, Vorlesungen aufzeichnen, uns öfter bewegen oder bei Klausuren mehr Zeit in Anspruch nehmen zu dürfen. Lehrkräfte und Professoren wissen unsere Ehrlichkeit oft zu schätzen und versuchen, uns bei unseren Bedürfnissen entgegenzukommen, sobald sie verstehen, warum.
Uns zusätzliche Unterstützung zuzusichern bedeutet nicht, dass wir nach einer gesonderten Behandlung verlangen. Es bedeutet nur, die Bedingungen für uns zu schaffen, die wir brauchen, um erfolgreich zu sein.
Schlussgedanke
Wenn du nur eine Sache von diesem Beitrag mitnimmst, dann sollte es die folgende sein: Aufmerksamkeit bedeutet nicht, dass wir unser Gehirn zwingen müssen, sich „richtig“ zu verhalten. Es bedeutet, dass wir verstehen müssen, was unser Gehirn speziell braucht, um optimal zu funktionieren - und Strategien zu entwickeln, um es aktiv zu unterstützen.
Unsere ADHS-Gehirne mögen vielleicht keine langen Vorträge oder endlose Texte. Aber sie sind kreativ, neugierig und schaffen interessante Verbindungen und Vernetzungen. Das Ziel ist nicht, uns an andere neurotypische Gehirne anzupassen, sondern die richtigen Umstände zu schaffen, unter denen wir so erfolgreich wie möglich arbeiten können. Und das können wir mit etwas Übung und Geduld ganz sicher gut hinbekommen.
Wenn ich dir bei deiner Konzentration helfen kann. dann melde dich jederzeit, und wir sprechen miteinander!
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