Wenn dein Kind anders tickt als du: Elternsein über Neurogrenzen hinweg

Wenn es um ADHS in Familien geht, denken viele von uns sofort an das neurodivergente Kind und die überforderten Eltern, die auf dem Zahnfleisch gehen. Aber was, wenn es genau umgekehrt ist? Wenn wir als Eltern diejenigen mit ADHS sind und unsere Kinder vollkommen neurotypisch?

Diese Konstellation kommt häufiger vor, als allgemein bekannt - ich habe jedes Jahr etliche “Fälle” in meiner Coaching-Praxis - und trotzdem wird kaum darüber gesprochen, obwohl sie ihre ganz eigenen Herausforderungen und auch ihre ganz eigenen Stärken mit sich bringt. Allgemein gesprochen haben wir es hier nicht mit Wutausbrüchen oder schlechtem Verhalten in der Schule zu tun, sondern mit unserem eigenen exekutiven Chaos, während unser Kind ganz normale, altersentsprechende Erwartungen an uns stellt. Und manchmal ist das genauso anstrengend, wenn nicht noch anstrengender, als wenn unser Kind neurodivergent ist.

Wenn unser Gehirn schneller ist als der Familienalltag

Wir als Eltern mit ADHS leben oft in einem Kopf, der ständig neue Tabs öffnet, Ideen produziert, zwischen Aufgaben hin- und herspringt und mit Routinen kämpft. Neurotypische Kinder hingegen brauchen Vorhersehbarkeit, Struktur und Beständigkeit. Dieses Missverhältnis kann im Alltag für Spannung sorgen:

  • Wir vergessen, unserem Kind das Geld für den Schulausflug rechtzeitig mitzugeben.

  • Wir schaffen es erst 10 Minuten nach Schulschluss zur Schule und sind das dritte Mal in einer Woche zu spät beim Abholen.

  • Wir versprechen unserer Tochter, gleich ein Spiel mit ihr zu spielen - und zwei Stunden später räumen wir immer noch die Küchenschublade um.

  • Unser Kind will uns von seinem Schultag erzählen, aber unser Gehirn macht einfach komplett dicht.

Das macht uns nicht zu schlechten Eltern. Es macht uns zu Menschen mit einem neurodivergenten Gehirn, die Kinder großziehen, die auf unsere Verlässlichkeit bauen. Und das braucht vor allem eines: Mitgefühl. Für beide Teile.

Wenn die Bedürfnisse unseres Kindes größer sind als unsere mentale Kapazität

Neurotypische Kinder brauchen:

  • feste Routinen,

  • vorhersehbare Abläufe,

  • klare Regeln,

  • emotionale Ruhe,

  • Unterstützung bei Aufgaben, die Geduld erfordern.

Für Eltern mit ADHS fühlt sich das manchmal an wie ein Test, den wir gar nicht bestehen können. Vielleicht kommen uns folgende Gedanken bekannt vor:

  • „Warum kann ich mir nicht einfach Dinge merken?“

  • „Warum fällt mir die Hausaufgabenzeit schwerer als meinem Kind?“

  • „Ich will geduldig sein, aber ich kann mich einfach nicht beherrschen.“

Das hat nichts mit mangelnder Anstrengung zu tun, sondern mit Neurobiologie. Und die Bedürfnisse unserer Kinder sind kein Vorwurf, sondern einfach ein Teil ihres Wesens. Wir müssen jedoch keine neurotypischen Eltern werden. Wir brauchen einfach ein Familiensystem, in dem beide Gehirntypen gut leben können.

 

Stärken, die wir als ADHS-Eltern mitbringen

Ja, ADHS bringt Herausforderungen mit sich. Aber sie bringt auch Fähigkeiten und Qualitäten mit, die unser Elternsein unglaublich bereichern.

1. Wir sind kreativ und verspielt.
Aus einem ganz normalen Nachmittag kann bei uns schnell ein kleines Abenteuer werden. Wir haben oft unkonventionelle Ideen, wie wir die Zeit mit unseren Kindern gestalten können und regen zu viel Fantasie an. Oft bringen wir unseren ganz eigenen Zauber in langweilige Alltagsmomente.

2. Wir sind flexibel und offen.
Unser Kind erlebt, dass es nicht nur den einen richtigen Weg gibt. Dass Fehler kein Drama sind. Dass Lachen, Neugier und Ausprobieren genauso wichtig sind wie Regeln.

3. Wir haben ein tiefes Einfühlungsvermögen.
Auch wenn unsere Kinder neurotypisch sind, erleben sie intensive Gefühle, Schwierigkeiten oder Selbstzweifel. Durch unsere eigene Erfahrung sind wir meist sensibler für emotionale Zwischentöne als neurotypische Eltern.

4. Wir sind sehr resilient.
Wir als ADHS-Erwachsene verbringen oft ein Leben lang damit, Lösungen zu finden, um uns neu zu organisieren und kreative Wege zu entwickeln. Diese Hartnäckigkeit und Anpassungsfähigkeit sind eine echte Stärke in unserem Elternalltag.

Diese so positiven Eigenschaften lösen zwar nicht all unsere Schwierigkeiten, aber sie zählen. Und zwar eine ganze Menge!

Ein Zuhause gestalten, das für beide Seiten funktioniert

Hier sind einige praktische Tipps, wie wir sowohl unsere eigenen Bedürfnisse als auch die unserer Kinder unterstützen können:

1. Unser ADHS unseren Kindern altersgerecht erklären

Eines der wirkungsvollsten Dinge, die wir als Eltern mit ADHS machen können, ist offen und kindgerecht über unsere Neurodivergenz zu sprechen. Unsere Kinder spüren viel mehr, als wir oft denken. Wenn wir ihnen erklären, was ADHS eigentlich bedeutet, kann das nicht selten Frust in Verständnis verwandeln. Wir können unseren Kindern klarmachen, dass unsere ADHS keine Ausrede ist, sondern eine Erklärung dafür, warum manche Dinge für uns schwieriger sind, und weshalb wir bestimmte Hilfsmittel oder Routinen benötigen, um besser im Alltag zu funktionieren.

Wenn uns unser Kind in einem Moment großer Überforderung etwas Verletzendes an den Kopf wirft, wie z.B, „Du bist so eine Scheiß-Mama!“, sollten wir erkennen, dass es ein Ausdruck von Stress und keine objektive Wahrheit über uns ist. Wir können emotionale Regulation vorleben, indem wir darauf mit Ruhe und Gelassenheit reagieren: „Ich verstehe, dass du frustriert bist. Dein Kommentar tut mir weh, aber vielleicht erklärst du mir ein bisschen genauer, was dich an meinem Verhalten besonders frustriert.“ So vermitteln wir gleichzeitig unsere Gefühle, zeigen aber auch Verständnis für die Emotionen unseres Kindes.

Vor allem Teenager haben oft wenig Geduld für unsere Vergesslichkeit, unsere leichte Ablenkbarkeit oder unsere emotionalen Reaktionen. Das gehört zur normalen Entwicklung unserer Kinder, auch wenn es manchmal wehtut. In diesen Momenten hilft es, Dinge konkret zu benennen: „Ich verstehe, dass dich das nervt. Ich gebe mir alle Mühe, es zu ändern. Vielleicht können wir gemeinsam nach einer guten Lösung suchen?“ Wir beziehen unser Kind in den Lösungsfindungsprozess mit ein und machen deutlich, dass wir seine Meinung zu schätzen wissen.

Darüber hinaus können wir unsere Kinder in weitere gemeinsame “Projekte” einbeziehen, z.B. in das Entwickeln von Routinen, das Verteilen konkreter Aufgaben oder das Erstellen von Erinnerungshilfen, die für die ganze Familie funktionieren. Das stärkt die Verbindung zu unseren Kindern und zeigt ihnen, dass neurodivergente Gehirne kreativ, anpassungsfähig und widerstandsfähig sein können. Und das Wichtigste: Wir dürfen nicht vergessen, dass ADHS uns nicht zu weniger kompetenten Eltern macht, sondern zu Eltern, die ständig dazulernen und ihren Kindern echte Selbstreflexion regelmäßig vorleben.

 

2. Alles nach außen verlagern

Wenn etwas in unserem Arbeitsgedächtnis „gespeichert“ bleiben soll, ist es nicht selten der Fall, dass es einfach wieder gelöscht wird – besonders dann, wenn wir uns als neurodivergente Eltern gleichzeitig mit einer Fülle anderer Dinge beschäftigen müssen. Der Schlüssel zum Erfolg besteht daher darin, unser Gehirn zu entlasten und ein externes System aufzubauen, das das sichere Abspeichern von Informationen für uns übernimmt.

Wandkalender machen beispielsweise Verpflichtungen und Termine klar sichtbar. Farblich kodierte Wochenpläne helfen uns, Schule, Arbeit und Familienleben auf einen Blick in die richtigen Kategorien einordnen zu können. Timer und Uhren unterstützen uns dann, wenn unser Zeitempfinden uns im Stich lässt und erinnern uns an die nächste Aktivität oder Verabredung. Und To-Do Listen, die wir dort aufhängen, wo sie uns automatisch immer wieder ins Auge fallen, sind wie kleine Anker im hektischen Alltag.

Unsere Kinder profitieren von all diesen Tools, weil das Leben plötzlich vorhersehbarer und sicherer wirkt. Wir als Eltern profitieren davon, weil wir damit eine Struktur erschaffen, die unserem Gehirn hilft, sich besser orientieren zu können. Es geht nicht darum, „disziplinierter“ zu werden, sondern unserem Gehirn die Strategien an die Hand zu geben, die es braucht, um optimal funktionieren zu können! .

3. Übergänge vorab planen

Übergänge von z.B. einer Aktivität zur nächsten sind für viele Kinder schwierig, doch für Eltern mit ADHS kommen noch zusätzliche Herausforderungen hinzu: Zeitblindheit, exekutive Dysfunktionen und das ständige Gefühl, mit allem hinterherzuhinken. Genau deshalb lohnt es sich, Übergänge im Voraus gut zu planen, bevor sie passieren. Das kann unseren Tag spürbar entspannter machen und die Beziehung zu unseren Kindern stärken. Z.B. können wir durch einfache Countdowns wie „Noch 10 Minuten, 5 Minuten, 2 Minuten“, unsere Kinder (und uns selbst) mental auf eine anstehende Veränderung vorbereiten.

Weiterhin helfen uns visuelle Erinnerungen an Whiteboards oder unserer Kühlschranktür, damit wir einfacher von einer Sache zur nächsten wechseln können: Eine Checkliste für alle Tätigkeiten am Morgen erspart es uns beispielsweise, wieder und wieder dieselben Anweisungen geben zu müssen. Und wenn möglich, sollten wir so viel wir können am Abend vorher vorbereiten: Taschen packen, Kleidung rauslegen, Snacks bereitstellen – besonders dann, wenn unser Abendgehirn besser funktioniert als unser Gehirn am Morgen.

4. „Inseln der Struktur“ erschaffen

Wir brauchen keinen perfekt durchgeplanten Tag. Was besser hilft, sind oft ein paar verlässliche Ankerpunkte in unserer Woche, die uns eine Grundstruktur geben, z.B.  

  • ein gemeinsames Frühstück

  • eine vorhersehbare Abendroutine

  • eine wöchentliche Aufräumstunde

  • eine Stunde jeden Sonntag, während der wir als Familie zusammenkommen

Den Rest können wir flexibler gestalten. Aber die festen Routinen wirken wie Ruhepole in einer ansonsten oft extrem vollen oder hektischen Woche. Sie geben unseren Kindern ein Gefühl von Stabilität und Vorhersehbarkeit, ohne uns als Eltern mit dem Anspruch an eine strenge Tagesstruktur zu überfordern.

Mit der Zeit helfen diese „Inseln der Struktur“ auch dabei, Machtkämpfe mit unseren Kindern zu reduzieren, unsere emotionale Regulation zu verbessern und natürliche Momente der Verbindung zu schaffen. Und weil diese Routinen recht überschaubar und leicht umzusetzen sind, passen sie auch wunderbar zu uns Eltern mit ADHS. Wenn das Leben chaotisch wird (und das ist eigentlich immer irgendwie der Fall!), können wir uns an diesen stabilen Wegweisern orientieren, zu denen wir regelmäßig zurückkehren können, um wieder festen Boden unter den Füßen zu finden.

5. Uns ohne Schuldgefühle Hilfe holen

Um Hilfe zu bitten ist keine Schwäche. Es bedeutet vielmehr, dass wir verstanden haben, dass wir es manchmal nicht alleine schaffen – und diese Einsicht kann uns viel Leid ersparen. Das Elterndasein mit ADHS erfordert Energie, große emotionale Kapazitäten und gut funktionierende exekutive Funktionen: alles Dinge, die mit ADHS nicht immer im erforderlichen Maße gegeben sind. Deshalb ist es so wichtig, nicht einfach allein weiterzumachen, sondern uns bewusst Menschen anzuvertrauen, die uns auf unserem Weg unterstützen können, sei es:

  • unser Partner, der uns bei der Umsetzung unserer Routinen tatkräftig unterstützt und manchmal auch komplett übernimmt, wenn unser Gehirn an seine Grenzen kommt.

  • Großeltern oder vertraute Verwandte, die Ruhe und Stabilität bieten.

  • Lehrkräfte oder Betreuer, die unseren Kindern Struktur vermitteln und diese auch adäquat kommunizieren können.

  • Babysitter oder Kitas, die uns Entlastung verschaffen.

  • Therapeuten und Coaches, die uns dabei helfen, unsere mentale Belastung zu verringern.

Wenn wir unsere Überforderung klar sehen und uns Hilfe holen, kommen wir auch oft unserer Elternrolle besser nach. Wir nehmen unsere Bedürfnisse ernst und vermitteln unseren Kindern, dass offen und selbstbewusst um Hilfe zu bitten eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollte. So lernen unsere Kinder von klein auf, dass wir durch die Unterstützung anderer das Leben erfolgreich meistern können – und nicht durch Selbstaufgabe. Und das ist eine der wichtigsten Erkenntnisse, die wir unseren Kindern mitgeben können.

Wir sind nicht „weniger“. Wir sind einfach ein bisschen anders.

Unsere Kinder brauchen keine perfekten Eltern. Sie brauchen Eltern, die mit ihnen emotional eng verbunden sind. Und gerade im Herstellen und Aufrechterhalten dieser Verbindung sind viele ADHS-Eltern oft äußerst gut. Wenn unsere Kinder neurotypisch sind, wirken unsere Welten manchmal vielleicht nicht synchron. Aber mit Klarheit, Verständnis, Routinen und Strukturen können wir unser Familienleben so gestalten, dass sich beide Neurotypen gut aufgehoben und respektiert fühlen.

Wir machen es nicht falsch. Wir machen es einfach ein bisschen anders – auf unsere ganz individuelle Art und Weise. Und das ist vollkommen in Ordnung!

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