ADHS-Kinder ticken anders - warum Vergleiche mit neurotypischen Kindern kontraproduktiv sind
Als Mutter eines Sohnes mit ADHS weiß ich aus eigener Erfahrung, dass die Erziehung eines neurodivergenten Kindes viele widersprüchliche Gefühle mit sich bringt: Liebe, Frustration, Zuneigung, Wut, Freude und oftmals Hilflosigkeit. In den letzten sieben Jahren habe ich sehr viel durch mein Kind gelernt – sowohl über die Bedürfnisse meines Kindes als auch über mich selbst und wie ich in bestimmten Situationen reagiere: Wie ich meine Frustration in Schach halten kann, wenn die Hausaufgaben länger dauern als erwartet; wie ich optimistisch bleibe, wenn ein weiteres Hobby abrupt ad acta gelegt wird, oder wie ich mit meiner Enttäuschung besser fertig werde, wenn wir ein Treffen mit engen Freunden oder Familienmitgliedern nach 15 Minuten verlassen müssen, weil mein reizüberfluteter Sohn vor Verzweiflung in Tränen ausbricht.
Obwohl ich mir heute mit diversen Strategien und Techniken recht gut zu helfen weiß und meinen Sohn durch seine zahlreichen Wutanfälle liebevoll begleiten kann, fällt es mir in bestimmten Situationen immer wieder schwer, meinen Sohn nicht mit seinen Klassenkameraden oder Freunden zu vergleichen. Natürlich weiß ich genau, dass es zu nichts führt, mein neurodivergentes Kind mit seinen primär neurotypischen Altersgenossen zu vergleichen – aber es passiert mir – wie so vielen anderen Eltern – immer mal wieder. Und das trotz der Einsicht, dass ein Vergleich weder mir noch meinem Sohn zugutekommt.
Unterschiedliche Gehirnvernetzungen bedeuten unterschiedliche Stärken
ADHS ist kein Mangel an Intelligenz oder Willensstärke, sondern eine andere Art und Weise, wie wir unsere Welt wahrnehmen und Reize verarbeiten. Neurotypische Kinder zeichnen sich häufig dadurch aus, dass sie strukturiert arbeiten, problemlos stillsitzen, detaillierte Anweisungen befolgen und pünktlich ihre Hausaufgaben erledigen können – also perfekt in das vorgegebene Schema passen. Kindern mit ADHS fallen diese Aufgaben oft schwer, da ihre exekutiven Funktionen ihnen Probleme bereiten und sie häufig im Stich lassen.
Jedoch was unseren neurodivergenten Kindern an traditioneller Struktur fehlt, machen sie durch Kreativität, Neugier und Spontanität wieder wett. Sie denken über den Tellerrand hinaus, konzentrieren sich auf oft anspruchsvolle Themen, die sie faszinieren (aber vielleicht nicht unbedingt in der Schule behandelt werden), und bringen nicht selten eine neue Perspektive in ein Gespräch mit ein. Sie sind hilfsbereit, empathisch, wissbegierig und haben einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit – viele wunderbare Eigenschaften also, die im Leben eine wichtige Rolle spielen.
Wenn ich mich jedoch mit den Müttern der Klassenkameraden meines Sohnes unterhalte und von deren Erfolgen in Schule und Freizeit höre, ertappe ich mich oft dabei, wie ich mich plötzlich nur auf die vermeintlichen Schwächen meines Sohnes konzentriere, während ich all seine Stärken und Talente völlig ausblende. Meinen Sohn auf diese Weise zu vergleichen, führt ganz schnell zu unnötiger Frustration und löst bei mir Unzufriedenheit und manchmal sogar ein bisschen Neid aus. Ich muss mich dann dabei bremsen, nicht sofort mehr Druck auf mein Kind ausüben zu wollen, obwohl mir bewusst ist, dass mein Sohn bereits sein Bestes gibt. Diese Situation ist für uns beide problematisch und verringert auf Dauer das Selbstbewusstsein meines Sohnes immer mehr, da er sich so wie er ist, nicht wertgeschätzt fühlt.
Ein geringes Selbstwertgefühl
Wenn unsere neurodivergenten Kinder ständigen Vergleichen ausgesetzt sind – ob direkt oder indirekt –, kann dies ihr Selbstwertgefühl tiefgreifend beeinträchtigen. Wenn sie immer wieder feststellen müssen, dass sie mit ihren Mitmenschen nicht mithalten können, fangen sie an zu glauben, dass sie „weniger“ oder „nicht gut genug“ sind. Dies kann zu einem Kreislauf aus Selbstzweifeln, Angstzuständen und sogar Depressionen führen.
Dabei sind unsere Vergleiche oft sehr einseitig. Unser Kind hat unter Umständen Schwierigkeiten, seine Hausaufgaben rechtzeitig zu erledigen, ist aber andererseits sehr kreativ im Geschichtenerzählen. Wenn es jeden Tag zu hören bekommt, dass sein Hausaufgabentempo ein Problem darstellt, während es jedoch kein Lob für seine neue Geschichte erfährt, lernt es schnell, dass seine natürlichen Talente nur eine untergeordnete Rolle spielen. Möglicherweise verliert es sogar jegliche Motivation, fühlt sich entmutigt oder hört sogar auf, sich für seine Hobbys zu interessieren. Und das wollen wir als Eltern unbedingt vermeiden.
Unbeabsichtigte Frustration der Eltern
Wenn wir als Eltern unsere ADHS-Kinder mit neurotypischen Kindern vergleichen, erleben wir oft erhöhten Stress und Enttäuschung. Anstatt die Fortschritte unseres Kindes zu honorieren, sind wir frustriert darüber, was unser Kind noch nicht alles kann, was neurotypische Kinder uns vorleben. Diese Denkweise verhindert, dass wir kleine Erfolge würdigen – wie zum Beispiel, dass sich unser Kind ohne Aufforderung an seinen Rucksack erinnert oder eine 20-minütige Hausaufgabe erledigt, ohne aufzugeben.
Indem wir den Fokus auf das richten, was unser Kind schon gut beherrscht, holen wir es dort ab, wo es gerade steht – und nicht da, wo wir es gerne hätten.
Einige Vorschläge, die ich selber praktiziere:
Um unser Kind darin zu unterstützen, sich in seinem eigenen Tempo zu entwickeln, sollten wir
uns auf seine Stärken konzentrieren und ihm helfen, seine individuellen Talente zu fördern.
klare Strukturen schaffen, da Routine ihm enorm hilft, seine täglichen Aufgaben zu erledigen.
uns mit ihm regelmäßig über seine Fortschritte freuen, auch wenn der Erfolg noch so klein ist.
unserem Kind zeigen, wie es für sich selbst einstehen und seine Bedürfnisse besser verstehen und kommunizieren kann.
Bei der Erziehung eines neurodivergenten Kindes sollte es nicht darum gehen, es in eine neurotypische Form zu pressen, sondern ihm dabei zu helfen, sich und seine eigenen Fähigkeiten und Talente zu entfalten. Auch wenn unser Kind merklich „von der Norm“ abweicht, sollten wir es in seiner individuellen Entwicklung bestärken und ihm die Zeit geben, die es braucht, um sich zu entfalten. Das ist nicht immer einfach und erfordert viel Geduld und Toleranz – aber es beschert uns auf die Dauer glücklichere Kinder und eine bessere Familiendynamik. Wir erbringen heroische Leistungen als Eltern – und uns das immer wieder vor Augen zu führen, kann uns schon dabei helfen, gegenüber uns selbst und unseren Kindern positiver und gnädiger eingestellt zu sein.