Warum ein gut geplantes Gap Year keine Zeitverschwendung ist
Als ich vor vielen Jahren als Austauschstudentin ein Jahr in Kopenhagen verbrachte, kam ich in meinem Wohnheim mit einer Reihe von Dänen zusammen, die etwas älter waren, als ich es von meinem Studium in den USA gewohnt war. Ich war neugierig und fragte meine dänischen Mitbewohner, was sie vor ihrer Zeit an der Uni gemacht hatten – und erhielt immer wieder die gleiche Antwort: ein Gap Year – oder manchmal sogar zwei.
Meine Mitbewohner hatten ihren Schulabschluss absolviert und sich danach auf diverse Abenteuer begeben: Manche waren um die Welt gereist, andere hatten als Entwicklungshelfer in Afrika gearbeitet, wieder andere in Grönland bei einem Forschungsprojekt mitgeholfen. Was ihre Erfahrungen miteinander verband, war die Tatsache, dass sie alle mehrere Monate außerhalb von Dänemark verbracht hatten, mehrere Fremdsprachen beherrschten und sich einig waren, dass eine Auszeit von Schule und Universität eine der besten Entscheidungen ihres Lebens gewesen war.
Nicht alle Nationen haben eine so positive Sicht auf ein Gap Year wie die skandinavischen Länder. Vor allem in Ländern, in denen es nicht leicht ist, einen Studienplatz an seiner Wunschuni zu erhalten, wird ein Gap Year mit viel mehr Skepsis und Argwohn betrachtet. In meinen 25 Jahren als Lehrerin und Professorin in den USA bin ich selten einem Studenten begegnet, der nicht direkt von der High School zur Universität gewechselt wäre. Zu groß war und ist der Druck, mit dem Studium zu beginnen, die Zeit an der Uni so kurz wie möglich zu halten (die Kosten vieler Universitäten sind sehr, sehr hoch) und nach dem Abschluss sofort eine gut bezahlte Arbeitsstelle anzunehmen. Für eine Auszeit bleibt da so gut wie keine Zeit.
Warum sollten wir also unsere kostbare Zeit für ein Gap Year verschwenden und uns auf diverse, u.U. riskante Abenteuer einlassen, wenn wir uns stattdessen auf unsere Karriere konzentrieren und recht bald Geld verdienen können? Welchen Nutzen können wir aus so einer Auszeit ziehen?
Zugegeben, eine Auszeit mag auf den ersten Blick wie ein regelrechter Luxus erscheinen, der uns im Leben nicht wirklich voranbringt. Jedoch täuscht diese Sichtweise, denn für viele junge Erwachsene können mehrere Monate ohne schulischen Stress eine immense Erleichterung bedeuten, insbesondere wenn sie ADHS haben.
Eine Auszeit hilft uns, uns vom jahrelangen Schulstress zu erholen: Nicht selten haben neurodivergente Menschen über Jahre hinweg mit Schwierigkeiten in der Schule zu kämpfen, sei es mit den täglichen Hausaufgaben, dem Stillsitzen in der Klasse, mit Mobbing durch ihre Klassenkameraden oder mit schlechten Noten in ihren Klassenarbeiten. Diese vermeintlichen Niederlagen lassen das Selbstbewusstsein in den Keller sinken und können uns auf die Dauer immer mehr zermürben. Daher ist es oft ratsam, sich gerade nach dem Abschluss der Schule eine Auszeit zu gönnen, um sich von den Strapazen zu erholen, den weiteren Lebensweg in Ruhe zu überdenken und gegebenenfalls eine neue Einstellung zum Lernen und zu den eigenen Leistungen zu erlangen. Dabei ist es sehr wichtig, das Selbstvertrauen in die eigenen Fähigkeiten zu stärken, indem wir Dinge tun, die uns wirklich interessieren und unsere Begeisterung wecken.
Persönliche Interessen und Leidenschaften finden und entwickeln. Wenn wir mit Schule, Hausaufgaben und unseren Hobbys beschäftigt sind, bleibt uns oft nur wenig Zeit, uns wirklich Gedanken über unsere wahren Interessen und Begabungen zu machen. Wir sind in unserem Alltagstrott gefangen und probieren nur selten neue Dinge aus. Jedoch ist es speziell für neurodivergente Menschen äußerst wichtig, sich intensiv mit der Frage nach jenen Aktivitäten zu beschäftigen, für die sie brennen und die ihnen wirklich Spaß machen. Das können oft ihre Hobbys sein, aber in vielen Fällen schlummern noch unentdeckte Talente und Interesse im Verborgenen und müssen erst erkundet werden.
Ein Gap Year kann uns daher die Möglichkeit bieten, uns näher mit uns selbst und unseren Vorlieben und Interessen zu beschäftigen und mehr Klarheit über diese zu erlangen. Denn es sind häufig genau diese Vorlieben und Interessen, die uns später erfolgreich in unserem gewählten Beruf sein lassen. Somit ist ein Gap Year nicht selten eine Zeit der großen Entdeckungen, in der wir neue Erkenntnisse über diverse Lebensbereiche gewinnen und somit leichter entscheiden können, welche Richtung wir in unserem Leben einschlagen wollen.
Exekutive Funktionen stärken: Eine dritte Herausforderung für junge Menschen mit ADHS besteht in der langsameren Entwicklung ihrer exekutiven Funktionen im Vergleich zu ihren neurotypischen Altersgenossen. Zeitmanagement, die Organisation unseres Tages, das Lösen von Problemen, das pünktliche Erledigen von Aufgaben oder unsere Impulskontrolle sind Fähigkeiten, mit denen viele ADHS-ler zu kämpfen haben, was es für sie schwieriger macht, sich in einer Ausbildung oder vor allem an der Universität zurechtzufinden und diese erfolgreich zu meistern.
Eine Auszeit kann in diesem Falle helfen, die exekutiven Funktionen durch gezielte Strategien zu stärken, bevor wir in die Arbeitswelt eintreten oder ein Studium beginnen. Wenn wir uns die nötige Zeit nehmen und uns intensiver als vorher mit unseren exekutiven Funktionen beschäftigen, erreichen wir generell bessere Ergebnisse in Uni und Beruf und erhöhen im Zuge dessen unser Selbstbewusstsein, unsere Selbstreflexion oder unser Verantwortungsbewusstsein, was uns ein Leben lang zugutekommen kann.
Zusammengefasst lässt sich also sagen, dass ein Gap Year dir gute Dienste erweisen kann, wenn du noch nicht bereit für Uni oder Ausbildung bist und Zeit für dich und deine Entscheidungsfindungen brauchst. „Studenten mit ADHS“, berichtet das Journal of Learning Disabilities, „haben tendenziell niedrigere Notendurchschnitte, brauchen länger bis zum Abschluss und haben höhere Abbrecherquoten als Personen ohne ADHS.“ Das bedeutet, dass es wichtig ist, dass du dich so gut wie möglich auf die nächste Phase deines Lebens nach der Schule vorbereitest und potentielle Schwierigkeiten ernst nimmst und diesen vorbaust.
Wie könnte ein Gap Year aussehen
Die Hauptvoraussetzung für ein erfolgreiches Gap Year ist definitiv, dass es sowohl gut durchdacht als auch genau geplant sein sollte. Ein Gap Year sollte sich idealerweise nicht dadurch auszeichnen, dass du stundenlang Netflix schaust, bis zum Mittag im Bett liegst, mit Freunden rumhängst oder Videospiele spielst. Und selbst wenn du eine Zeitlang die gerade genannten Aktivitäten verfolgst, sollte dies bewusst und mit einem bestimmten Ziel vor Augen geschehen. Manchmal ist es für uns tatsächlich lebensnotwendig, uns eine Auszeit zu gönnen, bevor wir wieder Neues in Angriff nehmen und voll durchstarten können, wie es in dem sehr aufschlussreichen Artikel in ADDitude Magzine „In Defence of the Nap Year“ beschrieben wird, Und das ist auch völlig in Ordnung. Nur sollten wir die Zeit des Nichtstuns bewusst gestalten und sie auf einige Wochen begrenzen, bis wir wieder Energie geschöpft haben und uns wieder für neue Dinge begeistern können. Denn ein Gap Year kann viele verschiedene Aktivitäten beinhalten – Nichtstun, Work-Travel, Sprachreisen, Praktika, etc. ,aber es sollte mit der Absicht unternommen werden, mehr über die eigenen Bedürfnisse und die nächsten Schritte in unserem Leben herauszufinden.
Wenn ein Gap Year also für dich in Frage kommt, solltest du dir zunächst die Frage stellen, wie du das Jahr für dich am besten nutzen kannst. Welche Ziele möchtest du in diesem Jahr erreichen? Möchtest du mehr Klarheit über deinen weiteren Lebensweg erhalten? Dich von der Schulzeit erholen und vielleicht eine positivere Sichtweise auf das Lernen gewinnen? Neue Interessen entdecken oder bereits bestehenden Hobbys intensiver nachgehen? Dich auf das Stärken deiner exekutiven Funktionen konzentrieren? Die Möglichkeiten sind vielfältig. Wichtig ist nur – wie schon oben erwähnt - dass du deine Ziele klar vor Augen hast, bevor du das Jahr antrittst. Du brauchst einen Fahrplan – denn ohne diesen weißt du nicht, welche Richtung du einschlagen musst, um den gewünschten Nutzen aus deiner Auszeit zu ziehen.
Sobald du dir konkrete Ziele gesetzt hast, kannst du mit der eigentlichen Planung beginnen. Diese sollte frühzeitig erfolgen – idealerweise mindestens ein Jahr von deinem geplanten Gap Year - damit du alles in Ruhe durchdenken kannst, keine Deadlines verpasst und an jenen Programmen teilnehmen kannst, die dir am meisten zusagen. Deine Möglichkeiten sind vielfältig – du kannst dein Jahr in verschiedene Abschnitte einteilen und in jedem Abschnitt eine andere Aktivität verfolgen. Du kannst z.B. in Florenz für ein paar Monate Italienisch lernen und dann zu Hause bei einer Organisation ein Praktikum absolvieren.
Wenn dich das Planen überfordert, gibt es jede Menge Organisationen, die dich bei der Planung tatkräftig unterstützen. Ich habe dir eine Reihe von Webseiten aufgelistet, die dich interessieren könnten:
KulturLife: https://kultur-life.de/gap-year
Rausvonzuhaus: https://www.rausvonzuhaus.de/
Einstieg: https://www.einstieg.com/gap-year/wie-plane-ich-ein-gap-year.html
Travelbee: https://www.travelbee.de/
Auf in die Welt: https://www.aufindiewelt.de/detail/schueleraustausch-mit-handicap-ist-ein-gutes-auslandsjahr-machbar-in-den-usa-und-vielen-anderen-lae
Verbraucherzentrale: https://www.verbraucherzentrale.de/wissen/reise-mobilitaet/unterwegs-sein/gap-year-worauf-ist-bei-einem-jahr-im-ausland-zu-achten-52647
Dir eine Auszeit zu gönnen, um deinen Interessen nachzugehen und mehr über dich selbst zu erfahren, kann eine wirklich wichtige Entscheidung sein. Solange du dein Gap Year gut planst und dir darüber im Klaren bist, was du erreichen möchtest, verschwendest du durch ein Gap Year keine Zeit, sondern bist oft später schneller im Studium und entschlossener bei deiner Berufswahl als viele deiner Freunde oder Bekannten. Darüber hinaus prägt eine Auszeit auf nachhaltige Weise dein weiteres Leben und beschert dir Erinnerungen, die dich auf deinem weiteren Lebensweg begleiten. Ein Gap Year kann also eine lebensverändernde Erfahrung sein, die ich wärmstens empfehlen kann.