Ich habe ADHS - ist ein Studium das Richtige für mich?
Chris ist in der 13. Klasse auf dem Gymnasium und steht kurz vor dem Abitur. Aufgrund seiner ADHS ist Schule nicht immer einfach für ihn, aber Chris ist recht wissbegierig und interessiert sich für viele verschiedene Fächer. Chris möchte nach seinem Abi auf die Uni gehen, da er davon träumt, Architekt zu werden. Um an der Uni genommen zu werden, muss Chris jedoch zuerst einen guten Notendurchschnitt bekommen – und das ist gar nicht so einfach.
Bislang hat Chris in der Schule ganz gute Noten erzielt. Seine Medikamente helfen ihm bei der Konzentration und sein ADHS-Coach gibt Chris Strategien an die Hand, wie er seinen Tag besser organisieren und effektiver für die Schule lernen kann. Eigentlich fühlt sich Chris bereit für den nächsten großen Abschnitt seines Lebens, wenn da nicht doch ab und zu leise Zweifel wären, ob er wirklich für die Uni geeignet ist.
Denn Chris hat ein bisschen recherchiert und herausgefunden, dass nur etwa 9 % aller Studenten mit ADHS-Symptomen ihr Studium beenden, während es bei neurotypischen Studenten 60 % sind. Auch haben Studierende mit ADHS angeblich schlechtere Noten, sind weniger gut auf die Uni vorbereitet und schließen weniger Kurse erfolgreich ab. Somit ist es nicht verwunderlich, dass sich Chris ernsthaft fragt: Ist die Uni wirklich das Richtige für mich oder sollte ich mich doch lieber nach einer Lehre zum Bauzeichner umsehen?
Natürlich gibt es viele Faktoren, die darüber entscheiden, ob Chris an der Uni studieren sollte, aber im Allgemeinen ist die Antwort ein klares ja. Ja natürlich kann Chris an einer Universität studieren, obwohl er ADHS hat. In der Vergangenheit haben viele Menschen mit ADHS ihr Studium erfolgreich abgeschlossen und Stellen gefunden, die ihnen Spaß machen und gut bezahlt sind. Bevor Chris jedoch seine Unilaufbahn beginnt, sollte er ein paar Dinge im Hinterkopf behalten, die wichtig dafür sind, dass er die Uni nicht abbricht und seine Zeit dort verschwendet.
Wenn du dich mit Chris identifizieren kannst, dann fragst du dich vielleicht auch, was du beim Übergang vom Gymnasium zur Uni beachten solltest. Im Folgenden findest du einige Fehleinschätzungen, denen ich immer wieder während meiner mehr als 20-jährigen Tätigkeit als Professorin an einer amerikanischen Privatuni begegnet bin – und wie du deine Herangehensweise ändern kannst, um erfolgreich zu sein. Die Unizeit kann eine wunderbare Erfahrung für dich sein, wenn du dein Studium gut planst, jede Menge Hilfe in Anspruch nimmst und dich nicht ständig mit deinen neurotypischen Kommilitonen vergleichst.
1. Ich brauche keine Hilfe – ich komme gut allein klar. Wenn du von diesem Artikel nur eine Sache mitnimmst, dann sollte es Folgendes sein – DU BRAUCHST UNTERSTÜTZUNG! Egal, ob es deine Eltern sind, die sich mehrmals pro Woche bei dir melden, dein Coach oder Therapeut, den du regelmäßig triffst, oder ob es das Beratungszentrum zur Inklusion Behinderter ist, das sicherstellt, dass du den Nachteilsausgleich erhältst, der dir gesetzlich zusteht. Je mehr Menschen du auf deiner Seite hast, desto besser.
Jessica McCabe, Begründerin des YouTube-Kanals „How to ADHS“, meint sogar, dass es keine schlechte Sache sei, während des Studiums zu Hause zu wohnen, da du dort von deinen Eltern die Unterstützung erhältst, die dich zum Abitur und dann an die Uni gebracht hat. Wenn du jedoch nicht zu Hause wohnen möchtest oder kannst, dann ist es ganz wichtig, dass du genau weißt, wo du an der Uni Hilfe erhalten kannst, z. B. im Schreibzentrum, wenn es das an deiner Uni gibt, oder bei der psychologischen Beratungsstelle. Je mehr Menschen du kennst, die du bei Schwierigkeiten um Hilfe bitten kannst, desto wahrscheinlicher ist es, dass du an der Uni gute Leistungen erbringst und deinen Abschluss in der Regelstudienzeit schaffst.
2. Ich will die Tatsache, dass ich ADHS habe, an der Uni für mich behalten: Dies hängt eng mit Punkt 1 zusammen, ist aber etwas anders gelagert. Natürlich ist es nicht notwendig, all deinen Freunden und Bekannten von deiner ADHS zu erzählen. Jedoch erleichtert es dir dein Leben enorm, wenn du die wirklich wichtigen Menschen an der Uni, wie z.B. deine Professoren, über deine Schwierigkeiten informierst, damit sie dir so gut wie möglich entgegenkommen können.
Als ich selbst Professorin war, hatte ich viele Studenten mit ADHS, aber lange Zeit wusste ich nicht genug über diese „Störung“, um genau zu verstehen, wie sehr meine Studenten davon im Unialltag beeinträchtigt waren.
Erst in meinen letzten fünf Jahren an der Uni beschäftigte ich mich eingehender mit dem Thema Neurodivergenz und wurde mir bewusst, was wirklich mit meinen Studenten los war. Geh also nicht davon aus, dass deinen Dozenten deine Schwierigkeiten bewusst sind. Frag sie vielleicht einfach mal unverbindlich, wie viel sie über ADHS wissen und klär sie dann mit den nötigen Details auf. Somit können sie dich optimal unterstützen und dich besser durch dein Studium begleiten.
3. Ich war im Gymnasium erfolgreich – wie viel schwieriger kann die Uni sein? Du hast Recht, dass es viele Parallelen zwischen dem Gymnasium und der Uni gibt, insbesondere wenn du an deine Leistungskurse denkst. Die beiden wichtigsten Unterschiede bestehen jedoch darin, dass a) dein Leben sowie Stundenplan jetzt viel unstrukturierter sind und du deine Zeit von morgens bis abends selbst organisieren musst und b) du nicht nur für deine akademischen Erfolge verantwortlich bist, sondern auch neue Freunde finden, Wäsche waschen, einkaufen, kochen und dich um all die bürokratischen Dinge kümmern musst, die nebenbei so anfallen.
Schon allein die Tatsache, dass du nun auf dich allein gestellt bist, kann dich leicht überfordern – und womöglich bist du dir auch nicht sicher, wie du deinen Tag gut strukturieren sollst, damit alles hineinpasst, was du erledigen musst. Darüber hinaus sind deine Uni-Kurse oftmals schwieriger als im Gymnasium – und du hast vielleicht auch schwierigere Hausaufgaben, die du regelmäßig abgeben musst. Es ist also wichtig, dass du den Unialltag nicht unterschätzt, sondern dich gut darauf vorbereitest, damit du von Anfang an den Überblick behältst.
4. Im Gymnasium brauchte ich keinen Kalender, um meinen Tag zu organisieren – warum sollte es jetzt anders sein? Ganz einfach darum, weil das Leben an der Uni um einiges komplexer ist – ein Kalender ist somit dein bester Freund an der Uni. In dieser neuen Lebensphase gibt es keine Eltern mehr, die dich daran erinnern, deine Hausaufgaben zu machen oder deine Projekte rechtzeitig abzugeben, was bedeutet, dass dein Kalender diese Funktion übernehmen muss.
Du kannst einen traditionellen Kalender aus Papier benutzen, ein in Leder gebundenes Notizbuch oder eine App auf deinem Handy oder deiner Smartwatch verwenden. Trage einfach alles ein, was du an einem Tag erledigen möchtest – alle deine Kurse, Arzttermine, Freizeitaktivitäten, etc. Plane vor allem auch reichlich Leerlauf ein, so dass du dich nicht gestresst zu fühlen brauchst – und verschiebe alles, was nicht unbedingt notwendig ist auf einen anderen Tag, wenn es dir zu viel wird.
5. Ich warte erstmal ab, wie sich das Semester für mich leistungsmäßig so entwickelt. Generell ist Abwarten keine gute Strategie. Viel besser ist es, wenn du für dich wichtige Dinge frühzeitig abklärst, wenn du noch nicht unter Stress oder Zeitdruck stehst. Es wäre gut, wenn du schon zu Beginn deines Studiums Antworten auf die folgenden Fragen finden könntest:
Wo lerne ich am besten? Finde ich im Wohnheim einen ruhigen Platz oder lasse ich mich dort zu leicht ablenken? Sagt die Uni-Bibliothek mir vielleicht eher zu oder gibt es ein Café in der Nähe, das für mich besser geeignet ist?
Kann ich frühzeitig einen Kommilitonen finden, mit dem ich zusammen meine Hausaufgaben machen und für Tests und Prüfungen lernen kann? Jemand, der mir dabei hilft, die Dinge auch wirklich erledigt zu bekommen.
Wie funktioniert die Bibliothek? Verstehe ich die Datenbanken und wie ich nach Artikeln und Büchern suchen kann? Oder gibt es einen netten Bibliothekar, der mir bei Fragen helfen kann?
Wie schreibt man eine wissenschaftliche Arbeit? Gibt es ein Schreibzentrum, das mir dabei helfen könnte?
Wie schwierig ist es, einen Termin in der Psychologischen Beratungsstelle meiner Universität zu bekommen? Und wie oft kann ich dort einen Therapeuten aufsuchen?
Gibt es weitere Stellen oder Zentren, wo ich Workshops besuchen oder mich für einen Tutor anmelden kann?
Gibt es an meiner Uni Selbsthilfegruppen für Menschen mit ADHS? Oder kann ich meine eigene Gruppe gründen, um mich mit anderen gleichgesinnten Menschen austauschen zu können?
Am besten orientierst du dich gleich zu Beginn des Semesters so gut wie möglich und versuchst, viele Fragen jetzt schon aus dem Weg zu räumen. Im Laufe deines Semesters wirst du noch mit zahlreichen weiteren Schwierigkeiten konfrontiert werden, aber je mehr du schon im Vorfeld abgeklärt hast, desto weniger werden dich diese Probleme aus der Bahn werfen.
Zusätzlich ist es empfehlenswert, dass du einen Notfallplan hast, falls etwas schiefgehen sollte. Besprich mit deinen Eltern, deinem Therapeuten oder deinem Coach, was du tun kannst, wenn die Dinge nicht so laufen, wie du sie dir vorstellst. Was machst du, wenn dir einfach alles zu viel wird? Wenn du dich hoffnungslos überfordert mit deinen akademischen Arbeiten fühlst? Wenn in deiner Wohnung großes Chaos herrscht und du dich nicht zum Aufräumen aufraffen kannst? Oder wenn du Probleme hast, die richtigen Freunde zu finden, und du dich einsam und deprimiert fühlst?
Geh die verschiedenen Szenarien mit deiner Familie oder engen Bezugspersonen durch und überleg dir genau, welche Lösungen für dich in Frage kommen. Schreib diese Lösungen auf ein Blatt Papier und bewahre es an einem sicheren Ort auf. Das ist dein Notfallplan, auf den du jederzeit zugreifen kannst, wenn du das Gefühl hast, dass du Hilfe brauchst. Er soll verhindern, dass du dich zu einer Kurzschlusshandlung hinreißen lässt und z.B. den Unterricht schwänzt oder deine Kurse schmeißt, an Prüfungen nicht teilnimmst oder sogar in Depressionen verfällst.
6. Ein großer Teil des Studiums besteht darin, Spaß zu haben und auf Partys zu gehen – ich möchte nicht ständig Rücksicht auf meine ADHS nehmen müssen: Ja, es ist wichtig, dass man im Studium Spaß hat, gute Freunde findet und die neue Freiheit genießt. Doch es ist noch wichtiger, dass es dir sowohl körperlich als auch mental gut geht, damit du gut durch dein Studium kommst.
Ernährst du dich gesund? Machst du Sport? Bekommst du ausreichend Schlaf – was besonders wichtig ist, wenn es darum geht, deine ADHS-Symptome unter Kontrolle zu bekommen. Hast du gute Strategien, wie du mit Stress und Ängsten umgehst? Dein akademischer Erfolg hängt eng mit deiner körperlichen und mentalen Gesundheit zusammen. Das heißt aber nicht, dass du nich feiern gehen und Spaß haben kannst. Aber das sollte eben nicht jeden Tag der Fall sein. So lange du gut auf dich achtest und dein Wohlbefinden an die erste Stelle setzt, schaffst du die besten Voraussetzungen, um in der Uni erfolgreich zu sein und deinen Abschluss zu schaffen.
7. Da ich nun erwachsen bin, brauche ich meine ADHS-Medikamente nicht mehr: Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. Laut der Zeitschrift ADDitude nehmen 47 % der Studenten mit ADHS ihre ADHS-Medikamente nur noch unregelmäßig oder gar nicht mehr ein, wenn sie mit der Uni beginnen. Die Gründe für diese hohen Zahlen sind vielfältig, z. B. spielt Überforderung eine große Rolle oder das Fehlen eines Arztes oder Psychiaters vor Ort, der die nötigen Medikamente verschreiben oder die Dosierungen neu anpassen kann. Wie schon oben mehrere Male erwähnt, solltest du vorausschauend planen und sicher stellen, dass du jeden Tag durch Post-It Notes oder dein Handy an deine Medikamente erinnert wirst – und dir überlegen, wie du ein neues Rezept bekommst, wenn deine Medikamente zur Neige gehen. Ein guter Arzt in deiner Uni-Stadt ist eine ausgezeichnete Voraussetzung dafür, dass es mit der Medikamenteneinnahme auch klappt.
Ein Studium kann dein Leben enorm bereichern und jede Menge Spaß machen. Aber es ist auch wichtig, deine ADHS nicht zu ignorieren, sondern sicherzustellen, dass du dir bestimmter Schwierigkeiten bewusst bist und weißt, wie du mit ihnen fertig werden kannst. Das bedeutet vor allem, dass du über ein Netzwerk von hilfsbereiten Personen verfügst und einen Notfallplan hast, falls die Dinge nicht so laufen, wie du gerne möchtest. Wenn du dann stolperst, fällst du wenigstens weich und kannst dich leicht wieder aufrappeln und deinen Weg weiterverfolgen!