Wie dein Kind es schaffst, diese verflixte Motivationsbrücke zu überqueren

Als Eltern eines ADHS-Kindes ist es nicht selten eine der größten Herausforderungen herauszufinden, wie man sein Kind am besten motivieren kann.

Es beginnt oft schon morgens damit, dass dein Kind keine Lust zum Anziehen und Zähneputzen hat, gefolgt von deinen genervten Aufforderungen, doch bitte endlich mit dem Frühstück fertig zu werden, um rechtzeitig in die Schule kommen. Am Nachmittag dauern die Hausaufgaben ewig und treiben dich an den Rand des Nervenzusammenbruchs – bis nach dem Abendessen dann die sogenannte Bettroutine beginnt, die dir den Rest gibt.

Warum nur, fragst du dich, während du erschöpft auf dem Sofa liegst, ist es so schwierig, dein Kind dazu zu bringen, alltägliche Dinge zu erledigen, ohne dass es ständig so viel Drama gibt? Was kannst du tun, damit die Situation nicht immer eskaliert und es weniger Streit zwischen dir und deinem ADHS-Kind gibt?

 

Natürlich wissen wir alle, dass auch viele neurotypische Menschen mit Motivationsproblemen zu kämpfen haben – aber besonders schwierig ist es für Menschen mit ADHS, deren Gehirnchemie etwas anders funktioniert. Für uns alle wird Motivation u.a. durch den Botenstoff Dopamin geregelt, der auch als Glückshormon bekannt ist und für unser Wohlbefinden verantwortlich ist. Dopamin hilft uns, von unserem bequemen Sofa aufzustehen und die Dinge auf unserer To-Do-Liste in Angriff zu nehmen.  Wenn wir etwas erledigen wollen, stellen wir uns oft das Endergebnis im Geiste vor und fühlen uns stolz und erleichtert darüber, eine gute Leistung erbracht zu haben. Diese Gefühle helfen uns dabei, langweilige oder schwierige Aufgaben zu Ende zu führen und nicht vorher aufzugeben.

 

Jedoch funktioniert das Gehirn von ADHS-Betroffenen aufgrund eines erheblichen Dopaminmangels nicht in gleicher Weise, wodurch ihnen die oben genannten positiven Gefühle vorenthalten werden. Ein niedriger Dopaminspiegel macht es viel schwieriger, sich motiviert zu fühlen. Um in die Gänge zu kommen, brauchen Menschen mit ADHS stärkere Anreize als neurotypische Menschen – und diese Reize kommen meistens von außen.  

 

Intrinsische und extrinsische Motivation

Wenn wir aus uns selbst heraus die Motivation finden, Dinge zu erledigen, dann sprechen wir von intrinsischer Motivation. Intrinsische Motivation macht uns unabhängig von äußeren Reizen; wir erledigen eine Aufgabe, weil wir darin für uns einen bestimmten Wert sehen und wir das Erreichen von Zielen als sinnstiftend empfinden. Für Menschen mit ADHS kann es jedoch schwierig sein, diese intrinsische Motivation aufzubringen, wenn ihr Dopaminspiegel niedrig ist und sich für sie eine Aufgabe langweilig und langwierig anfühlt. Für sie ist dann ein Anreiz von außen essentiell, um dadurch ihren Dopaminspiegel zu erhöhen und sie so zum Verweilen bei einer Aufgabe zu bewegen.

 

Jessica McCabe, Begründerin des YouTube-Kanals „How to ADHS“ und eine der Schlüsselfiguren zum Thema ADHS in den USA, spricht von Motivation als einer Brücke, die aus Motivationsbrettern besteht. Für neurotypische Menschen sind diese Motivationsbretter zahlreich vorhanden, wobei jedes Brett eine neue Motivationsquelle darstellt, sei es Willenskraft, Selbstdisziplin oder Ausdauer. Für Menschen mit ADHS gibt es jedoch nur wenige Motivationsbretter, was das Überqueren der Brücke sehr erschwert. Oftmals erweist es sich sogar als völlig unmöglich, auf die andere Seite zu gelangen – ganz gleich, wie sehr sich die Person bemüht oder zur Überquerung entschlossen ist - statt vorwärts zu schreiten, bleiben ADHS-ler in der Mitte der Brücke stecken oder fallen durch die Lücken in die Tiefe.  

 

Somit stellt sich die Frage, wie wir als Eltern dieser Motivationsbrücke genügend Bretter hinzufügen können, um unserem Kind bei der Bewältigung seiner tagtäglichen Aufgaben zu helfen. Die Antwort darauf liefert wieder McCabe, die die Wichtigkeit herausstellt, eine langwierige, repetitive und langweilige Aufgabe wie die Hausaufgaben in eine dringende, aufregende und für das Kind interessante Aktivität zu verwandeln. Natürlich müssen nicht alle drei Kriterien erfüllt sein, aber es muss eine deutliche Veränderung in der Wahrnehmung der Aufgabe stattfinden, damit sich das Kind motiviert fühlt.

  

Wie können wir eine Aufgabe dringend machen?

Um eine Aufgabe dringend zu machen, können wir versuchen mit einem Timer zu arbeiten und unser Kind bitten, seine Aufgaben vor dem Ablauf der Zeit zu erledigen, Wir können daraus ein Spiel machen, bei dem das Kind gegen die Uhr antritt und versucht, sie zu schlagen. Wir können den Timer als Signal für den Beginn einer Aufgabe benutzen (sobald der Timer piept, putzt sich dein Kind die Zähne) oder mit dem Timer die Zeitspanne festlegen, in der unser Kind eine Aufgabe erledigen soll. Hier einige konkrete Beispiele:

 

1. Hausaufgaben machen: Du setzt den Timer für 10 Minuten und lässt dein Kind einen Teil der Hausaufgaben in diesem Zeitraum machen. Zusammen findet ihr heraus, wie viel dein Kind in dieser Zeit erledigen kann – und ob es den eigenen Rekord am nächsten Tag brechen kann.

2. Das Gleiche gilt auch fürs Aufräumen - wie viele Spielsachen kann dein Kind in 10 Minuten wegräumen – wenn es Geschwisterkinder gibt, dann kannst du ein Spiel daraus machen, indem du das Zimmer in mehrere Bereiche aufteilst und dann denjenigen belohnst, der am schnellsten mit dem Aufräumen fertig ist.

3. Anziehen: Kann dein Kind sich fertig anziehen, bis der Timer abläuft  (wie wäre es mit 5 Minuten)?

Wenn eine Aufgabe komplexer oder zu schwierig ist, als dass man sie auf einmal erledigen könnte, dann kannst du sie in mehrere Teile aufteilen und für jedes Teil einen „Abgabetermin“ festlegen. Wenn dein Kind einen längeren Aufsatz schreiben oder ein Projekt abschließen muss, kannst du ihm dabei helfen, jeden Tag an seiner Aufgabe zu arbeiten, bis sie komplett fertig ist. Und wenn dein Kind es schafft, jeden Tag einen Teil rechtzeitig zu erledigen, gibt es eine kleine Belohnung – auf die wir noch näher in unserem Abschnitt „Persönliches Interesse“ eingehen.

 

Wenn dein Kind etwas älter ist, kannst du es auch fragen, ob es zusammen mit einem Freund oder einer Freundin lernen möchte. Wichtig ist, dass diese Person verantwortungsbewusst ist und dein Kind bei der Sache hält. Je mehr Gleichaltrige deinem Kind zum Erfolg verhelfen, desto besser.

 

Wie du eine Aufgabe neuartig und aufregend machen kannst

Wenn etwas neu ist, sind wir tendenziell eher bereit, es auszuprobieren. Natürlich ist es unmöglich, sich jeden Tag völlig neue Dinge auszudenken – zumal die meisten Aufgaben repetitiver Natur sind, wie etwa das Zähneputzen, Anziehen oder das Hausaufgabenmachen. Jedoch können wir unsere Herangehensweise an eine Aufgabe überdenken und sie verändern. Wie können wir das machen? Indem wir unsere Kreativität nutzen, um unsere Routine mit neuen Ideen aufzupeppen. Hier sind ein paar Vorschläge für dein Kind – aber die Möglichkeiten sind endlos:

 

1. Zähneputzen: Lass dein Kind den Standort wechseln und die Zähne an der Küchenspüle und nicht über dem Waschbecken im Badezimmer putzen. Wie wäre es mit einer neuen Zahnpasta oder einer neuen Zahnbürste mit seiner Lieblingsfigur darauf? Oder vielleicht putzt sich dein Kind ab und zu mit unterschiedlicher Geschwindigkeit die Zähne – oder probiert eine neue Zahnputztechnik aus.  

2. Baden: Ein paar neue Wasserspielzeuge können helfen oder dein Kind darf seine Lieblingsautos mit in die Badewanne nehmen. Ein tolles Schaumbad kann das Baden wieder spannend machen oder die Möglichkeit, während des Badens die eigenen Lieblingslieder zu hören.

3. Hausaufgaben machen: Die Hausaufgaben auf dem Bett oder in einer Hängematte machen (wie McCabe vorschlägt) oder auf einem Gymnastikball sitzend.  Wenn dein Kind älter ist, kann es vielleicht besser in einer Bibliothek oder einem Café lernen – oder es geht im Sommer mit seiner Hausaufgabe in den Park. Verschiedene Schreibmaterialien wie coole Stifte, farbiges Papier, Aufkleber oder Riechradiergummis können die Motivation steigern. Wenn dein Kind ein Trampolin hat, kann es darauf springen und dabei seine Vokabeln wiederholen. Vielleicht hört es auch lieber die Hörversion des Romans, den es in der Schule durchnimmt, als diesen zu lesen.

4. Hausarbeiten erledigen: Macht ein Spiel daraus – das Gleiche gilt auch für die Hausaufgaben deines Kindes. Findet heraus, wie schnell dein Kind eine bestimmte Tätigkeit beenden kannt und versucht dann, diese Zeit beim nächsten Mal zu unterbieten. Andere Familienmitglieder können ebenfalls teilnehmen und in den Wettstreit eintreten.

 

Wie du leidige Aufgaben mit den persönlichen Interessen deines Kindes verknüpfst

Wir alle wissen, dass sich Kinder mit ADHS intensiv auf Dinge konzentrieren können, für die sie sich wirklich begeistern, wie z.B. Legosteine, unser Sonnensystem oder Videospiele. Es ist nicht selten ein Ding der Unmöglichkeit, sie von etwas loszueisen, das sie so fesselt, dass sie alles um sich herum vergessen (Hyperfokus). Wie können wir diese außergewöhnliche Gabe unserer Kinder nutzen, wenn es darum geht, weniger spannende Aufgaben zu erledigen?

 

Die erste Frage, die wir uns stellen müssen, ist, wie wir die Interessen unseres Kindes mit einer langweiligen Aufgabe wie den Hausaufgaben verbinden können. Kannst du zum Lesenüben eine Geschichte finden, die dein Kind begeistert? Wie ist es mit einem Comic, der von den Lieblingssuperhelden deines Kindes handelt? Können wir unsere Kinder zum Vokabellernen motivieren, indem wir sie die Texte ihrer Lieblingslieder übersetzen lassen? Oder wie wäre es, wenn dein Kind einfache Additionen beim Einkaufen im Supermarkt üben, indem es die Preise seiner Snacks zusammenzählt?

 

Inwieweit ist es möglich, die Interessen deines Kindes mit seinen schulischen Interessen in Einklang zu bringen? Ist es beispielsweise möglich, sich ein Thema selber auszusuchen, wenn dein Kind ein Projekt für die Schule bearbeiten muss? Vielleicht kannst du durch ein Gespräch mit den Lehrern herausfinden, wieviel Spielraum es in der Schule für dein Kind gibt, seinen Interessen nachzugehen und Hausaufgaben oder Prüfungen auf seine Bedürfnisse zuzuschneiden.

 

Belohnungssysteme

Eine weitere Möglichkeit, das Interesse unserer Kinder an einer Aufgabe zu wecken, ist der Einsatz von Belohnungssystemen. Belohnungssysteme – vorausgesetzt die Belohnung ist die richtige für dein Kind - erhöhen die Anzahl von Motivationsbrettern auf der Brücke und helfen daher deinem Kind, sicher auf die andere Seite zu gelangen.

 

Wenn dein Kind schon älter ist, kannst du mit ihm zusammen eine gemeinsame Abmachung treffen – z.B. in Bezug auf die Hausaufgaben. Ihr überlegt gemeinsam, was dein Kind machen muss, um eine bestimmte Belohnung zu erhalten. Wie die Belohnung aussieht, legt dein Kind fest (soweit das möglich ist), wie die Konsequenzen aussehen, wenn sich dein Kind nicht an die Abmachung hält, besprecht ihr zusammen. Somit habt ihr eine Art Vertrag, den ihr zusammen aufgesetzt habt, was bedeutet, dass ihr nicht ständig von Neuem miteinander diskutieren müsst, was die Belohnungen und Konsequenzen für eine bestimmte Aufgabe sind.

 

Auch bei einem jüngeren Kind kannst du mit ihm zusammen Belohnungen aushandeln, auf die sich dein Kind freut. Nur solltest du darauf achten, dass Belohnungen schon nach kurzer Zeit erfolgen sollten, um dein ADHS-Kind zum Weitermachen zu ermutigen. Wenn dein Kind zehn bis fünfzehn Minuten gearbeitet hat, ist es Zeit für einen Keks, eine gemeinsame Geschichte oder 10 Minuten unstrukturierter Spielzeit.

 

Wenn die zu erledigende Aufgabe längere Zeiträume – mehrere Tage oder Wochen – erfordert, kannst du mit einem Punktesystem arbeiten, bei dem die eigentliche Belohnung erst später erfolgt. Für jede erledigte Teilaufgabe wird eine bestimmte Punktzahl vergeben und diese Punkte auf einem Blatt Papier festgehalten. Sobald die Aufgabe erledigt ist – oder wenn dein Kind eine bestimmte Punktzahl erreicht hat – erhält dein Kind eine größere Belohnung. Jedoch ist es trotzdem wichtig, nicht nur die fertige Aufgabe, sondern auch die kleinen Teilerfolge regelmäßig zu belohnen, um die Motivation aufrechtzuerhalten und dein Kind bei der Stange zu halten.

 

Belohnungen müssen nicht unbedingt materieller Natur sein, sondern können auch einfach mehr Zeit mit einem Elternteil bedeuten, um z.B. ein Brettspiel zu spielen oder eine Radtour zu unternehmen. Wir können unseren Kindern zusätzliche Bildschirmzeit, ein neues Spielzeug oder ein Stück Kuchen zugestehen. Das Wichtigste ist, dass die Belohnung für unsere Kinder attraktiv ist und einen echten Anreiz darstellt, die anstehende Aufgabe zu erledigen.

 

Eine andere Person zu motivieren kann schwierig sein und bedeutet oft, dass wir einfach ausprobieren müssen, was bei unseren Kindern am besten funktioniert. Es kann frustrierend sein – vor allem, wenn sich plötzlich die Vorlieben unserer Kinder ändern und bestimmte Strategien, die bis jetzt zum gewünschten Erfolg führten, nur noch ein müdes Lächeln hervorrufen. Aber wir dürfen trotzdem nicht aufgeben. Anstatt uns zu ärgern, können wir unsere Kinder immer wieder in den Prozess mit einbeziehen und gemeinsam nach Lösungen suchen.

Und wenn alles fehlschlägt, müssen wir vielleicht bestimmte Aufgaben auslagern und einer anderen Person übergeben. Manchmal können Hausaufgabenbetreuung oder ein Nachhilfelehrer wahre Wunder bewirken und uns Eltern die Möglichkeit geben, uns von den täglichen Kämpfen mit unseren Kindern zu erholen bis die nächste Herausforderung wieder ins Haus steht.

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Wie du einen Kalender effektiv benutzt, wenn du ADHS hast - Teil 1

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Ich habe ADHS - ist ein Studium das Richtige für mich?