Mit ADHS Freundschaften knüpfen, die uns wirklich glücklich machen
Als ADHS-Coach sehe ich in meiner Praxis immer wieder, dass die Herausforderungen von Menschen mit ADHS weit über Konzentration, Zeitmanagement oder Alltagsorganisation hinausgehen. Ein häufig übersehener Bereich betrifft das Knüpfen und Pflegen sozialer Kontakte – ein Thema, das viele meiner Klienten tief bewegt.
Natürlich gilt das nicht für alle neurodivergente Menschen. Manche sind sehr gesellig, haben viele Freunde und sind in Gruppen oder Vereinen aktiv. Andere hingegen fühlen sich in Gesellschaft oft fehl am Platz, als sprächen sie eine andere Sprache oder gehörten einfach nie so richtig dazu.
Die amerikanische ADHS-Expertin Caroline Maguire beschreibt diese Problematik in ihrem Buch Why Will No One Play With Me? als eines der zentralen Themen für Kinder und Erwachsene mit ADHS. Viele von ihnen berichten schon in jungen Jahren von Ausgrenzung, Missverständnissen oder dem Gefühl, „irgendwie komisch“ zu sein. Aber woran liegt das?
Die unsichtbare Hürde: Soziale Signale verstehen
Menschen mit ADHS fällt es oft schwer, nonverbale Signale wie Blicke, Mimik, Gesprächspausen oder Tonveränderungen richtig zu deuten. Ihr Gehirn ist häufig mit anderen Gedanken, Reizen oder Impulsen beschäftigt, so dass diese subtilen Hinweise schlicht untergehen. Das führt dazu, dass sie nicht wie erwartet auf ihr Gegenüber reagieren oder ihre Ausdrucksweise bestimmten Signalen anpassen. Außenstehende interpretieren das möglicherweise als unhöflich, distanzlos oder übertrieben, obwohl dahinter meist die besten Absichten stehen.
Mit der Zeit können solche Missverständnisse tiefe Spuren hinterlassen: Gefühle von Ablehnung, Einsamkeit oder die quälende Frage: „Was stimmt eigentlich nicht mit mir?“ – ohne greifbare Antwort.
„Ich fühle mich anders“
Viele meiner Klienten schildern mir immer wieder, wie fremd sie sich in Gesellschaft anderer Leute fühlen. Sie erzählen, dass sie selten Menschen begegnen, die auf ihrer Wellenlänge sind oder ihre Gedankengänge nachvollziehen können. Eine Klientin berichtete kürzlich von einem Gespräch, in dem ihr eine Bekannte sagte: „Kannst du nicht einfach mal über normale Sachen, wie z.B. Schuhe, reden, anstatt ständig so tiefgründig zu werden?“
Solche Aussagen können tief verletzen. Sie hinterlassen das Gefühl, „zu viel“ zu sein. Viele ziehen sich daraufhin zurück oder passen sich übertrieben an, um „normal“ zu wirken.
Doch genau dieser Rückzug verhindert oft, dass andere Menschen uns wirklich kennenlernen können. Es entsteht ein Teufelskreis: Je mehr wir versuchen, uns zu verstecken, desto einsamer und unverstandener fühlen wir uns. Und irgendwann glauben wir womöglich selbst, dass etwas mit uns nicht stimmt, was zu Ängsten oder depressiven Verstimmungen führen kann.
Soziale Verbundenheit ist möglich
Die gute Nachricht ist: Freundschaften sind möglich! Auch wenn es manchmal mehr Geduld und Übung braucht. Hier sind fünf konkrete Schritte, die uns dabei helfen können, echte zwischenmenschliche Verbindungen aufzubauen:
1. Soziale Signale üben
Es ist kein Zeichen von Schwäche, wenn wir soziale Signale nicht intuitiv erkennen. Das hat neurologische Gründe. Aber diese Fähigkeit lässt sich trainieren. Wir können gezielt Körpersprache, Mimik und Tonlage in Gesprächen beobachten und diese besser verstehen lernen. Weiterhin können wir versuchen kurz innezuhalten, bevor wir antworten, um unserem Gehirn mehr Zeit zum Verarbeiten von Informationen zu geben.
Wenn wir vertraute Menschen um ehrliches Feedback bitten oder mit ihnen bestimmte Situationen in Rollenspielen üben, entwickeln wir mit der Zeit ein besseres Gespür. Maguire empfiehlt zudem, ein Interaktions-Tagebuch zu führen: Was lief gut? Was war schwierig? So wird der Fortschritt sichtbar.
2. Kleine Ziele setzen
Große Gruppen, viele Reize, Smalltalk-Druck – das kann uns schnell überfordern. Statt uns in lange Gespräche oder große Events zu stürzen, können wir klein anfangen. Wir können beispielsweise jemandem kurz „Hallo“ sagen, eine Frage stellen oder einfach nur Augenkontakt halten. Sich solche kleinen Mini-Ziele zu setzen ist völlig okay. Maguire schlägt vor: „Heute spreche ich mit einer Person für fünf Minuten.“ Oder: „Ich bleibe 20 Minuten auf der Veranstaltung und gehe, wenn es zu viel wird.“
Diese kleinen Schritte stärken unser Selbstvertrauen, ohne uns zu überfordern. Freundschaften entstehen nicht auf Knopfdruck; sie wachsen mit der Zeit.
3. Das richtige Umfeld finden
Nicht jede Gruppe ist die richtige. Anstatt uns anzupassen, können wir gezielt nach Menschen suchen, die unsere Interessen teilen. Das kann ein Buchclub, eine Handarbeitsgruppe, ein politisches Forum, ein Online-Netzwerk oder ein Sportverein sein. Wenn wir uns mit einem Thema beschäftigen, das uns Freude macht, ist die Chance höher, mit Gleichgesinnten ins Gespräch zu kommen – und zwar ganz ohne „Smalltalk-Zwang“.
Gemeinsame Interessen schaffen sofort eine Verbindung und erleichtern den Einstieg ungemein.
4. Freundschaften langsam wachsen lassen
Manchmal freuen wir uns so sehr über eine neue Verbindung, dass wir alles auf einmal teilen in der Hoffnung auf sofortige Tiefe. Doch zu viel Nähe zu schnell kann abschreckend wirken oder enttäuschen, wenn sich die Beziehung später anders entwickelt als erhofft.
Es ist wichtig, uns genügend Zeit zu nehmen und eine neue Verbindung sich langsam entwickeln lassen. Mit jeder Begegnung entsteht Vertrauen. So können wir auch besser erkennen, ob wir wirklich zueinander passen, ganz ohne Eile oder Druck.
5. Rückschläge nicht als persönlichen Makel sehen
Wir alle machen Fehler mit anderen Leuten. Wir alle erfahren Ablehnung. Aber das sagt nichts über unseren Wert als Mensch aus.
Eine peinliche Bemerkung, ein unbeantwortetes „Hallo“ oder ein verpatztes Gespräch bedeuten nicht, dass wir unfähig sind, Freundschaften zu schließen. Es bedeutet nur, dass wir mutig genug waren, unser wahres Ich zu zeigen.
Je mehr wir uns erlauben, unperfekt zu sein, desto authentischer werden wir. Und genau das zieht die richtigen Menschen an.
Fazit: Wir sind nicht zu viel. Wir sind nicht komisch. Wir sind einfach wir selbst.
Leben mit ADHS bedeutet oft, die Welt anders wahrzunehmen. Das kann es schwer machen, sich „einzufügen“, aber es bedeutet nicht, dass tiefe, ehrliche Verbindungen unmöglich sind.
Wenn wir lernen, unsere Stärken zu sehen, uns in den richtigen Kontexten zu bewegen und Geduld mit uns selbst zu haben, können wir erfüllende Beziehungen finden. Beziehungen, in denen wir nicht nur akzeptiert, sondern geschätzt werden, und zwar genau so, wie wir sind.
Wir sind nicht „zu viel“. Wir sind genau richtig. Und irgendwo da draußen gibt es Menschen, die uns genauso respektieren, schätzen und mögen, wie wir sind!