Selbstständigkeit mit ADHS: Freiheit oder einfach nur Chaos?

Als ADHS-Coach begleite ich viele meiner Klienten, die unzufrieden mit ihrer beruflichen Situation sind. Oft sitzen sie mir recht verzweifelt gegenüber, ausgebrannt und überzeugt davon, dass mit ihnen „etwas nicht stimmt“. Manche waren lange arbeitslos und verlieren langsam den Glauben daran, jemals wieder richtig arbeiten zu können. Andere hangeln sich von einer Stelle zur nächsten in der Hoffnung, endlich den Job zu finden, der zu ihnen passt. Und wieder andere geben alles, um sich so gut sie können in einem Unternehmen anzupassen, nur um dann an unglücklichen Missverständnissen, chronischer Überforderung oder Erschöpfung zu scheitern.

Die Geschichten sind verschieden, die Muster aber oft sehr ähnlich. Eine Klientin erzählte mir neulich, wie schwer es ihr generell falle, den zahlreichen Meetings in ihrem Unternehmen aufmerksam zu folgen, um keine wichtigen Infos zu verpassen. Ein anderer Klient fühlt sich von seinen vielen Deadlines überfordert und weiß nicht, wie er seine Aufgaben termingerecht erledigt bekommen soll. Viele leiden darüber hinaus unter Großraumbüros, der Unfähigkeit zu priorisieren oder unter unausgesprochenen sozialen Erwartungen, die sie kaum durchschauen.

Mich überrascht das nicht. ADHS bringt jede Menge Herausforderungen mit sich, vor allem bei den sogenannten „Exekutivfunktion“ – also bei allem, was mit Planung, Organisation und emotionaler Regulation zu tun hat. Daher ist es kein Wunder, wenn ein klassischer Arbeitsplatz mit festen Arbeitszeiten, vielen administrativen Tätigkeiten und unzähligen Meetings oft Probleme mit sich bringt.

Interessanterweise taucht bei vielen meiner Klienten immer wieder ein leiser Gedanke auf, der aber nicht selten gleich wieder unwirsch verworfen wird: Ich glaube, ich möchte mich selbstständig machen. Das kommt meist in einer Kombination aus Hoffnung und Angst. Hoffnung auf Freiheit und Flexibilität, aber einer großen Angst vor jenem gefürchteten Wort: Selbstverantwortung.

Können Menschen mit ADHS wirklich ihr eigener Chef sein?

Die kurze Antwort lautet: Ja, natürlich! Aber um wirklich erfolgreich zu sein, braucht es Klarheit, eine gute Struktur und die richtige Unterstützung. Keinen Vorgesetzten zu haben bedeutet zwar weniger Druck, aber eben auch niemanden, der uns dabei hilft, unserem Tag eine feste Struktur zu geben. Auch Rechnungen, Steuererklärung oder Terminplanung können sich schnell wie ein Albtraum anfühlen. Und dann ist da noch dieser Widerspruch in uns: Wir sehnen uns nach Freiheit, brauchen aber gleichzeitig klare Rahmenbedingungen, um nicht im Chaos zu versinken.

Trotzdem berichten viele meiner Klienten, dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben in der Selbstständigkeit richtig aufblühen. Sie können ihren Tag so strukturieren, wie es für sie Sinn macht. Sie müssen sich nicht mehr verstellen, sondern dürfen so arbeiten, wie es sich für ihr Gehirn am besten anfühlt. Sie können im Hyperfokus Projekte durchziehen, zwischendurch eine Runde joggen gehen oder sich auf den Boden legen, um nachzudenken – ohne schräge Blicke zu erhalten.

Natürlich braucht die Selbstständigkeit, wie schon erwähnt, gute Systeme. Man muss sich die Arbeit so aufbauen, dass sie zu den eigenen Bedürfnissen passt. Tools, Routinen und externe Hilfen sind dabei unerlässlich.

Mein Leben als ADHS-Coach und Solopreneurin

Ganz ehrlich: Ich bin auch deshalb Coach geworden, weil ich selbstständig sein wollte. Als jahrelange Professorin an einer amerikanischen Universität hatte ich zwar viele Freiheiten, aber auch zahlreiche Verpflichtungen: Ich musst an unseren faculty meetings teilnehmen, Berichte verfassen, auf Konferenzen gehen, Noten an meine Studenten vergeben oder mich an unsere Lehrpläne halten. Als ich dann wirklich mein eigener Boss wurde, fühlte sich das zunächst wie eine Erlösung an – aber auch ein bisschen wie ein Sprung ins kalte Wasser.

Meine größten Baustellen? Die richtigen Prioritäten zu setzen. Mich nicht im Admin-Kram zu verlieren. Fristen einzuhalten, ohne erst um Mitternacht damit anzufangen. Und – ganz klassisch – nicht bei jedem neuen Projekt euphorisch „ja!“ zu rufen.

Wie ich meine Selbstständigkeit trotzdem hinbekomme? Ich arbeite mit zahlreichen Tools, Strategien und besagter Struktur. Es funktioniert nie wirklich perfekt, aber die vorgegebene Struktur hilft mir, mich nicht in Nichtigkeiten zu verlieren. Natürlich hilft auch die Tatsache, dass ich wirklich sehr, sehr gerne Coach bin und eine Leidentschaft dafür habe.

Im Folgenden habe ich eine Liste mit 12 Strategien zusammengestellt, die mir und vielen meiner Klienten dabei helfen, fokussierter, motivierter und organisierter bei der Arbeit zu bleiben. Nicht für jeden passt jede Strategie, aber wir können uns selektiv das heraussuchen, was uns persönlich anspricht:

1. Morgens früh mit der Arbeit beginnen

Ich bin ein richtiger Morgenmensch, so dass mir frühes Aufstehen wenig ausmacht. Ich fühle mich morgens extrem energetisch und beantworte E-Mails, poste auf LinkedIn oder entwerfe neue Projekte bevor meine Kinder aufwachen. Ich habe dann schon einiges erledigt, bevor der Tag richtig beginnt, was meine Stimmung hebt und mich wiederum motiviert, so produktiv weiter zu arbeiten.

2. Bewegung bringt uns auf neue Gedanken

Ich versuche, jeden Morgen eine Runde im Park zu laufen, da mir keine andere Aktivität so gut hilft, den Kopf frei zu bekommen. Natürlich habe ich nicht immer Lust dazu. Vor allem dann nicht, wenn das Wetter grau und regnerisch ist. Nicht selten muss mich mein Mann aus der Haustüre schubsen - aber wenn ich dann einmal draußen bin, genieße ich es immer, in der Natur zu sein. Laufen und Natur bringen mich auf interessante Gedanken und geben mir neue Ideen, wie ich in meiner Arbeit weiterkommen kann.

3. Die stillen Momente gießen

Nach dem morgendlichen Chaos mit den Kindern nehme ich mir bewusst ein paar Minuten mit einer Tasse Tee und sitze ruhig am Tisch. Diese fast meditativen Augenblicke helfen mir, mich wieder zu sammeln und mich mental für die nächsten Aufgaben vorzubereiten. Ich schaue mir kurz meinen Kalender an, streiche oder ergänze To-dos und schließe die Augen für ein paar Minuten. Das ist nicht viel, aber es hilft mir ungemein.

4. Tools nutzen, die zu unserem Gehirn passen

Ich benutze sehr gerne Google Calender, weil er übersichtlich gestaltet ist und mir mit seiner Stundenaufteilung einen guten Überblick über meinen Tag bietet. Weiterhin benutze ich einen Pomodoro-Timer oder Apps wie Freedom, um mich nicht so leicht ablenken zu lassen und fokussierter zu bleiben. Manche meiner Klienten schwören auf Todoist oder Notion. Es ist wichtig herauszufinden, welches Tool am besten zu uns passt und es dann konsequent einzusetzen.

5. Alles Wichtige sichtbar machen

Viele Sachen kann ich mir nur dann merken, wenn sie irgendwo fixiert sind. Ich liebe Whiteboards, Post-its oder Sprachnachrichten, um mich auch wirklich an alles erinnern zu können. Auch Google Keep kann super funktionieren. Je mehr alles sichtbar vor meinem Auge ist, desto größer die Chance, dass ich es auch wirklich umsetze.

6. Die ideale Arbeitszeit finden

Ich bin morgens am produktivsten. In dieser Zeit schreibe ich neue Artikel, entwickle Ideen oder arbeite an Projekten. Diese Zeit ist mir heilig und sozusagen meine „Goldene Stunde“, die ich mir so gut es geht freihalte.

7. Ablenkungen durch gute Planung ausschließen

Ich lege mir am liebsten meine Coachingsitzungen und Vernetzungstermine gleich hintereinander. Dadurch habe ich keine Zeit, mich ablenken zu lassen und meine Motivation zu verlieren. Je beschäftigter ich bin, desto besser. Für eine absehbare Zeitspanne.

8. Bewusst Mittagspausen einlegen

Mittagessen mit meinen Kindern, ein kurzes (oder längeres) Hausaufgaben-Intermezzo (so chaotisch es auch sein mag) und Abstand von meinem Bildschirm: diese Dinge helfen mir, mich von meinem Morgen zu erholen und wieder Energie zu tanken. Ich bin nach meiner Pause nicht immer super motiviert, aber mein Kopf funktioniert wieder besser.

9. Für schwierige Aufgaben: Body Doubling oder Delegieren

Bürokram? Unerträglich!!!. Ich versuche, mich entweder virtuell mit einer Freundin oder mit meinem Mann zu verabreden (Stichwort „Body Doubling“) um Rechnungen, Verträge und Terminplanung besser erledigen zu können. Schon allein, wenn mein Mann neben mir sitzt und etwas anderes macht, hilft mir das ungemein beim Dranbleiben. Wenn ich jedoch merke, dass ich bestimmte Aufgaben so gar nicht schaffe, lagere ich so viel wie möglich aus. Das kostet zwar manchmal etwas mehr Geld, aber die Arbeitserleichterung ist es mir wert. Das gleiche gilt auch für meinen Coach, den ich regelmäßig treffe. Es macht mein Leben so viel einfacher zu wissen, dass es eine Person gibt, die mich zur Verantwortung zieht und mich in schwierigen Lebensphasen begleitet. Natürlich kostet ein Coach auch wieder extra, aber ich könnte mir mein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen!

10. Energieeinbrüche berücksichtigen

Ich weiß, dass ich mich am Nachmittag oft müde und energielos fühle - deshalb versuche ich, alles Wichtige am Vormittag zu erledigen. Am Nachmittag verbringe ich viel Zeit mit meinen Kindern oder mache Aufgaben, die mich intellektuell weniger fordern.

11. Vorausschauend planen

Bevor ich schlafen gehe, werfe ich noch einmal einen Blick auf meinen Kalender und schreibe mir drei Dinge für den nächsten Morgen auf, die ich schaffen möchte. Nicht zehn. Nicht fünf. Nur drei. Mehr überfordert mich und führt dazu, dass ich gar nicht erst anfange. Weniger ist hier wirklich mehr.

12. Schlaf als Grundvoraussetzung für Produktivität

An manchen Abenden bleibe ich zu lange wach. An anderen schlafe ich beim Gute-Nacht-Sagen meiner Kinder mit ein. Aber ich weiß, dass Schlaf kein Luxus ist. Er ist bei mir die Voraussetzung für all das, was ich am Tage erreichen möchte. Daher bitte ich meinen Mann oft, mich daran zu hindern, noch einmal meine E-Mails zu checken oder das Buch weiterzulesen, das ich nicht aus der Hand legen kann. Denn wenn ich genug Schlaf bekomme, gehen mir viele Dinge am nächsten Tag viel leichter von der Hand.

Freiheit oder Chaos? Wahrscheinlich trifft beides zu.

Die Selbstständigkeit mit ADHS ist nicht immer einfach. Aber sie kann unglaublich zufriedenstellend sein. Der Schlüssel zum Erfolg ist hier die Einsicht, dass wir uns nicht an neurotypischen Standards messen dürfen, sondern unsere Selbstständigkeit nach unseren individuellen Bedürfnissen ausrichten müssen.

Wenn du also mit dem Gedanken spielst, dich selbstständig zu machen, dann bist du damit nicht alleine. Es ist womöglich genau das richtige Konzept für dich.

Ich für meinen Teil arbeite unglaublich gerne für mich selbst und möchte nicht mehr zurück in ein Angestelltenverhältnis!

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