Sieben Tipps, wie du deinem neurodivergenten Kind die Eingewöhnung nach einem Umzug erleichtern kannst
Letztes Jahr im Juni 2023 zog ich nach fast 25 Jahren in den USA mit meinem amerikanischen Mann C. und meinen beiden Söhnen M. (5) und N. (2) zurück nach Deutschland. Wegen der Pandemie war N. noch nie in Deutschland gewesen und auch M. hatte das letzte Mal mit zwei Jahren seine deutschen Großeltern besucht. Er konnte sich so gut wie gar nicht erinnern und sah unserem Umzug mit großen Bedenken entgegen.
Wir verbrachten den Sommer damit, unser neues Zuhause in Deutschland einzurichten und die Gegend zu erkunden, bevor M. in die erste Klasse einer deutschen Grundschule kam. M. war in den USA nie gerne in den Kindergarten gegangen, weil es für ihn eine Herausforderung ist, sich in Gruppen zurecht zu finden. Da M. ADHS hat, kommt er normalerweise am besten in einer ruhigen Umgebung mit wenig äußeren Reizen klar. Neue Orte machen ihm Angst und er kann sich schlecht selbst regulieren, wenn er starke Gefühle hat. Natürlich machten wir uns alle ein wenig Sorgen darüber, wie gut sich M. in eine Schule mit neuen Lehrern, neuen Klassenkameraden und einer neuen Sprache eingliedern würde.
Interessanterweise schien es M. zunächst viel besser zu gehen als in den USA. Er ging ohne Probleme in die Schule, passte im Unterricht auf, machte seine Hausaufgaben recht zügig und freundete sich sogar mit ein paar Kindern an. Doch als wir gerade aufatmen wollten, da sich alles so gut anließ, fingen M.s Probleme an – und traten im Laufe des Schuljahres immer deutlicher zu Tage.
Auch wenn der viel kürzere Schultag an deutschen Schulen M. sehr entgegenkam – in den USA ist die Schule auch für Grundschüler jeden Tag erst um 14:30 oder 15 Uhr zu Ende – ließen seine schulischen Leistungen immer weiter nach. Er hatte Probleme mit dem Alphabet, verstand beim Rechnen das Addieren und Subtrahieren nicht richtig und konnte aus den unterschiedlichen Buchstaben keine Wörter formen.
Außerdem hatte er Schwierigkeiten mit anderen Kindern, die ihn ärgerten und über den Schulhof jagten. Manchmal dauerte es eine ganze Weile, bis ich M. morgens davon überzeugen konnte, in seine Klasse zu gehen und es noch einen weiteren Tag in der Schule zu versuchen. Tränenüberströmt und mit Pikachu unter dem Arm schlurfte er schließlich in seine Klasse – aber der Tag war für ihn gelaufen.
Mit der Zeit wurde klar, dass sich die bestehenden ADHS-Symptome von M. nach unserem Transatlantik-Umzug verschlimmert hatten – etwas, mit dem ich nicht gerechnet hatte. M. hatte plötzlich starke Trennungsängste und konnte nicht mehr alleine einschlafen, ohne meine Hand zu halten. Er hatte auch oft seine Gefühle nicht unter Kontrolle – vor allem seine Wut, die sich sowohl gegen uns als Eltern als auch gegen jene Klassenkameraden richtete, mit denen er sich am Anfang des Schuljahres ein bisschen angefreundet hatte. Sein Freundeskreis schrumpfte und Verabredungen gab es nur noch selten. Ich konnte gut nachvollziehen, dass sich M. traurig fühlte, nachdem er seine geliebten amerikanischen Großeltern, seine Freunde, die Katzen, die wir nicht mitnehmen konnten, und das Haus, in dem er aufgewachsen war, nicht mehr um sich hatte. Es sollte über ein Jahr dauern, bis M. sich an die neue Situation gewöhnt hatte und ihm das Leben in Deutschland ans Herz gewachsen war.
Sieben Tipps, die deinem Kind bei der Eingewöhnung helfen können
Wenn dein Kind ADHS hat und ihr umziehen musstet – insbesondere, wenn es sich um ein anderes Land handelt - hast du vielleicht ähnliche Erfahrungen mit deinem Kind gemacht. Wenn unsere Kinder neurodivergent sind, entwickeln sich ihre exekutiven Funktionen – ihre kognitiven Fähigkeiten, die steuern, wie wir unser Leben organisieren und strukturieren, uns auf eine Aufgabe konzentrieren oder unsere Ziele erreichen – im Vergleich zu anderen neurotypischen Kindern langsamer. Ihre Fähigkeit, sich an eine neue Lebenssituation anzupassen, ist oft stark beeinträchtigt und führt dazu, dass unsere Kinder viel länger brauchen, um sich vollständig mit einer neuen Situation anzufreunden.
Nachfolgend findest du 7 Vorschläge, die dir dabei helfen können, dein Kind optimal zu unterstützen, um mit der neuen Situation besser fertig zu werden.
1. Zunächst ist es besonders wichtig, unser Zuhause zu einem sicheren Ort für unser Kind zu machen, in dem es sich geliebt und verstanden fühlt. Da alles um unser Kind herum neu und möglicherweise beängstigend ist, sind wir als Familie der Fels in der Brandung und stellen die Konstante dar, die unser Kind ansonsten vermisst. Wie genau machen wir unser Zuhause zu einem „safe space“? Lies einfach ein bisschen weiter.
2. Es ist weiterhin wichtig, die Gefühle unserer Kinder ernst zu nehmen. Oftmals glauben wir, bereits genau zu wissen, was das Beste für unsere Kinder ist, und gehen daher nicht genügend auf ihre eigentlichen Bedürfnisse ein. Unsere Kinder wollen jedoch gehört und verstanden werden. In kurzen Gesprächen können wir sie alle paar Tage über ihre Gefühle der neuen Umgebung gegenüber befragen - und versuchen, bei den Antworten gegebenenfalls zwischen den Zeilen zu lesen. Auch wenn unsere Kinder noch klein sind, können sie uns oft schon viele wichtige Hinweise geben, wenn wir denn genau hinhören.
3. Geduld ist eine weitere Komponente, um die Eingewöhnung zu erleichtern. Ein Kind mit ADHS hinkt im Hinblick auf seine exekutiven Funktionen 2-3 Jahre seinen Altersgenossen hinterher – was noch durch den Stress des Umzugs verstärkt wird. Daher kann es um einiges länger dauern, bis sich unsere Kinder wirklich heimisch fühlen. Vielleicht fällt es ihnen im Moment schwer, neue Freunde zu finden, und sie möchten daher eine Weile alleine spielen. Oder sie haben kein Interesse daran, ihre alten Hobbys fortzuführen, wenn sie dafür einem neuen Verein oder einer neuen Mannschaft beitreten müssen. Wir sollten unseren Kindern so viel Zeit lassen, wie sie benötigen, um sich an die neue Situation anzupassen. Sobald sie sich vertrauter mit der neuen Umgebung fühlen, wird sich vieles von alleine verändern.
4. Wenn es deinem Kind schwerfällt, zur Schule zu gehen oder seine Hausaufgaben zu erledigen, probier es mal mit einer Belohung. Was braucht dein Kind, damit bestimmte Dinge leichter werden? Wenn dein Kind jünger ist, könnte es ihm vielleicht helfen, sein Lieblingsstofftier mit zur Schule zu nehmen. Oder könnte ein besonderer Pausensnack ihm dabei helfen, besser durch den Schultag zu kommen? Auch bei den Hausaufgaben oder anderen Aktivitäten und Terminen, die erledigt und wahrgenommen werden müssen, kann eine Belohnung gut funktionieren. Überlegt einfach zusammen, wie eine gute Belohnung aussehen könnte, die deinem Kind genug Motivation gibt, um unangenehme Situationen durchstehen zu können.
5. Eine Umarmung hilft oft besser als Geschrei! Das ist leichter gesagt als getan, aber es ist einen Versuch wert. Wenn dein Kind von Wut oder Frustration überwältigt wird, ist es wichtig, ruhig an seiner Seite zu bleiben, ihm aufmerksam zuzuhören oder es einfach mal in den Arm zu nehmen. Das wirkt in unserem Fall mit M. oft wahre Wunder und gibt ihm das Gefühl, dass er trotz seiner Gefühle nicht ausgegrenzt wird. Wenn er sich dann wieder etwas beruhigt hat, versuchen wir oft gemeinsam, den Auslöser für seinen Gefühlsausbruch zu finden und Strategien zu entwickeln, wie er in der Zukunft einen Wutausbruch vermeiden kann.
6. Eine andere Möglichkeit besteht darin, gemeinsam mit deinem Kind neue Orte zu entdecken und Aktivitäten zu finden, die deinem Kind wirklich Spaß machen. Wenn dein Kind gerne schwimmt, dann schaut nach Erlebnisbädern mit tollen Wasserrutschen, Wellenbad oder sogar einem Regenwald. Besucht Abenteuerspielplätze, Museen, Parks, Restaurants, Kinos oder Wanderwege, die dein Kind ausprobieren möchte. Mit der Zeit sammelt ihr eine Reihe von schönen Erinnerungen, die dann auf Dauer an die Seite der alten treten und deinem Kind das neue Land vertrauter machen
7. Als letzten Punkt sollten wir versuchen, das Selbstwertgefühl unseres Kindes so gut wie möglich zu stärken. Oft mangelt es deinem Kind nach einem Umzug an Vertrauen, mit neuen Situationen fertig werden zu können. Je mehr du die Talente und Stärken deines Kindes herausstellen kannst, desto besser schafft es dein Kind, sich in der neuen Umgebung besser zurecht zu finden. Nimm dir jeden Abend 5 Minuten Zeit und schreib drei Dinge auf, die dein Kind an diesem Tag gut gemacht hat. Am Ende der Woche könnt ihr euch dann zusammensetzen und über all die Dinge sprechen, die gut gelaufen sind. Oder du machst es zu einem Ritual, jeden Abend zusammen mit deinem Kind seine Stärken aufzuschreiben. Mit der Zeit steigt das Selbstvertrauen deines Kindes und wirkt sich oft auf viele Bereiche in seinem Leben positiv aus.
Mittlerweile geht es M. gut. Er hat immer noch Probleme mit der Schule und nur wenige Freunde - aber er ist auf einem guten Weg. Neulich erzählte er mir, dass er noch länger in Deutschland wohnen möchte, da er weiterhin seine geliebten Laugenbrezen essen, im Sommer ins Schwimmbad gehen und in seinem Lieblingsverein Fußball spielen möchte. M. ist mehr oder weniger in Deutschland angekommen - und das trifft auch auf die meisten Kinder, ob neurodivergent oder neurotypisch, zu, wenn man ihnen genügend Zeit, Geduld und gegebenenfalls professionelle Unterstützung gibt.