Prokrastination und ADHS: 13 erprobte Tipps aus meinem Coaching

Prokrastination oder das ständige Aufschieben von Aufgaben (daher auch Aufschieberitis genannt) ist wahrscheinlich eines der größten Themen, die mir als ADHS-Coach begegnen. Und seien wir ehrlich: Wer von uns mit ADHS kennt dieses Gefühl nicht? Wir wollen ja anfangen, ganz unbedingt, aber irgendetwas in uns blockiert. Die Gründe sind vielfältig: fehlende Motivation, Langeweile, Überforderung, Perfektionismus oder die Angst, den eigenen Erwartungen nicht gerecht zu werden.

Ich selbst kämpfe seit ich denken kann mit Prokrastination. Und das nicht nur bei großen Dingen wie Prüfungen oder Bewerbungen, sondern auch im Alltag. Ein Beispiel, das mir bis heute lebhaft in Erinnerung geblieben ist:

Eine gute Freundin lieh mir einmal eine Schallplatte. Ich wollte sie mir unbedingt auf Kassette überspielen (ja, damals gab es noch Kassetten 😊). Das schien mir eine simple Aufgabe, aber leider wurde es zu einem Drama in mehreren Akten. Erst schaffte ich es wochenlang nicht, überhaupt eine leere Kassette zu kaufen. Als ich das endlich hinter mir hatte, stand die Platte wochenlang in meiner Wohnung herum, weil es mir unmöglich erschien, sie einfach mal aufzulegen. Irgendwann rutschte sie sogar aus der Hülle und landete unter meiner Stereoanlage, wo sie zwei Monate lang Staub sammelte. Am Ende war sie verkratzt, ließ sich nicht mehr richtig abspielen und ich musste meiner Freundin eine Ersatzplatte kaufen. Ergebnis: mein Taschengeld war weg, meine Freundin sauer und ich wusste am Ende nicht wirklich, warum die ganze Sache eigentlich für mich so schwierig gewesen war….

Warum ist Prokrastination besonders bei ADHS so ausgeprägt?

Die Wissenschaft liefert dazu einige spannende Antworten. Neurobiologisch gesehen hat ADHS viel mit einer Dysregulation im Dopaminsystem zu tun (Volkow et al., 2009). Dopamin ist der Neurotransmitter, der für Motivation, Belohnung und Antrieb zuständig ist. Wenn Aufgaben wenig spannend sind oder die Belohnung weit in der Zukunft liegt, fällt es dem ADHS-Gehirn extrem schwer, „in Gang zu kommen“.

Dazu kommt ein schwaches Zeitgefühl (Brown, 2005). Viele Menschen mit ADHS leben eher im „Jetzt“ oder im „Später“, ohne die Zwischenschritte realistisch einschätzen zu können. Die Aufgabe bleibt daher nebulös und fühlt sich unüberwindbar an.

Außerdem spielt Perfektionismus eine große Rolle: Viele von uns haben schon so oft erlebt, dass wir „versagt“ haben, dass wir irgendwann lieber gar nicht mehr anfangen, aus Angst, wieder enttäuscht zu werden (Sirois & Pychyl, 2013).

Kurz gesagt: Prokrastination bei ADHS ist kein Zeichen von Faulheit. Es ist eine komplexe Mischung aus Neurobiologie, Emotionen und Erfahrungen.

13 Tipps, die mir und meinen Klienten helfen, ins Handeln zu kommen

Natürlich gibt es kein Patentrezept, aber die folgenden Strategien helfen mir und meinen Klienten, wenn wir wirklich feststecken, aber weiterkommen müssen. Nicht jede Strategie hilft zuverlässig zu allen Zeiten, so dass wir flexibel bleiben und ausprobieren müssen. Daher empfehle ich immer, keine Methode kategorisch zu verwerfen, sondern immer wieder mal hervorzuholen und zu testen, ob sich etwas geändert hat.

1. Einen Timer nutzen (Pomodoro-Technik)

Ich erinnere mich noch, wie ich früher ganze Nachmittage damit verbrachte, mich vor einer Aufgabe zu drücken. Dann entdeckte ich im Studium die Pomodoro-Technik, und plötzlich ging vieles viel besser. Auch jetzt setze ich oft einen Timer für 25 Minuten (oder manchmal auch nur für 10 Minuten) und lege los. Nur eine kurze Zeitspanne zu arbeiten fühlt sich überschaubar an und steigert häufig meine Motivation, in der kurzen Zeit möglichst viel zu schaffen. Und wenn ich einmal an einer Arbeit sitze, mache ich nicht selten nach den abgelaufenen 25 Minuten einfach weiter.

2. Mini-klein starten

Das größte Hindernis ist bei mir meistens der Anfang. „Ein Essay schreiben“ klingt in meinen Ohren gigantisch, „Dokument öffnen und Titel eintippen“ dagegen machbar. Ich sage oft zu meinen Klienten: „Mach den Anfang so klein, dass du ihn nicht NICHT machen kannst.“ Und wenn wir schon einmal ein kleines Erfolgserlebnis haben, machen wir oft gar nicht so ungerne weiter.

3. Gefühle zulassen

Viele von uns warten darauf, bis sie Lust haben anzufangen. Aber diese Lust kommt meiner Erfahrung nach so gut wie nie - vor allem dann nicht, wenn wir sie wirklich bräuchten. Daher versuche ich, so gut es eben geht, mich einfach mal durch die ersten Minuten des Unwohlseins „durchzubeißen“, Es klappt nicht immer, aber wenn ich Glück habe, dann verschwindet das Gefühl schneller, als ich dachte, was übrigens auch durch die Lernforschung belegt ist.

4. Brain Dump

Was machen wir, wenn uns tausend Dinge gleichzeitig durch den Kopf gehen und wir daher nicht anfangen können? Wenn das der Fall ist, schreibe ich einfach alles auf, egal, wie chaotisch es sich anfühlt. Erst wenn meine Gedanken auf dem Papier sind, fühlt sich mein Kopf wieder frei genug an, um wirklich loszulegen.

5. Belohnungssysteme

Als Kind gab es für mich nach einer Impfung beim Kinderarzt ein Eis. Heute belohne ich mich nach einer erledigten Aufgabe mit ein paar Seiten in einem Roman, einer Folge meiner Lieblingsserie oder mit 10 Minuten in den sozialen Medien. Das motiviert mich oft, eine Arbeit zu beenden, weil ich mich auf meine selbst gesetzte Belohnung freue!

6. Accountability Buddy

Accountability Buddys sind für mich enorm wichtig. Manchmal reicht es, wenn mein Mann neben mir sitzt, auch wenn er etwas völlig anderes macht. Oder ich schließe einen Pakt mit einer Freundin und setze eine Deadline, bis zu dieser wir beide eine bestimmte Aufgabe erledigt haben müssen. Ich verfluche mich zwar nicht selten dafür, aber im Endeffekt bin ich mit Accountability Buddys viel erfolgreicher als ohne. Online funktioniert das übrigens auch super.

7. Die Umgebung wechseln

Mein Schreibtisch zu Hause ist manchmal wie ein Magnet für Ablenkungen. Ich mache neben der Arbeit die Wäsche oder denke ständig über das Mittagessen nach. Wenn ich ins Café gehe oder in die Bibliothek, ändert sich mein Fokus sofort. Ein kleiner Ortswechsel kann Wunder wirken und meine Konzentration enorm erhöhen.

8. Musik oder Geräusche nutzen

Ich habe Klienten, die mit klassischer Musik super konzentriert arbeiten, andere brauchen HipHop oder White Noise. Mein Geheimtipp: Naturgeräusche wie Regentropfen oder Waldgeräusche beruhigen mich ungemein und schaffen positive Bilder in meinem Kopf, die zu meiner Produktivität beitragen.

9. Klare Deadlines setzen

Ohne feste Fristen kann ich Aufgaben ewig vor mir herschieben. Selbst gesetzte Deadlines mit einem Eintrag im Kalender geben mir ein Gefühl von Struktur. Am besten funktioniert es, wenn ich jemandem davon erzähle und somit eine gewisse Dringlichkeit künstlich kreiere!

10. Aufgaben miteinander verknüpfen

Ich hasse Wäschefalten, aber wenn ich dabei einen guten Podcast höre, fühle ich mich motivierter. Unangenehmes mit Angenehmem zu koppeln hilft oft ungemein, uns selbst zu überlisten und die unliebsame Tätigkeit in Angriff zu nehmen.

11. „Temptation Bundling“

Ähnlich wie beim Aufgaben verknüpfen, aber noch gezielter: Ich erlaube mir z. B. meine Lieblingsschokolade nur während ich eine nervige Aufgabe erledige. Plötzlich freue ich mich sogar ein bisschen aufs Anfangen. Aber die gewählte Sache muss für mich einen wirklichen Reiz haben (nicht irgendeine, sondern wirklich meine Lieblingsschokolade) - sonst funktioniert es bei mir nicht.

12. Prokrastination „ritualisieren“

Anstatt gegen das Aufschieben zu kämpfen, plane ich es manchmal bewusst in meinen Tag ein. Zum Beispiel sage ich mir: „Okay, ich darf jetzt 15 Minuten lang prokrastinieren – aber mit Timer.“ Nach Ablauf der Zeit geht’s dann los. Oft hilft dieses kleine „Erlauben“ den Druck rauszunehmen, und genau das senkt meine Hemmschwelle, anzufangen.

13. „Reverse To-Do-List“ schreiben

Statt Aufgaben aufzuschreiben, die wir noch machen müssen, notieren wir einfach alles, was wir schon erledigt haben. Klingt simpel, aber der kleine Dopamin-Kick beim Abhaken hilft mir oft, ins Tun zu kommen. Danach kann ich leichter wieder zu den „echten“ Aufgaben wechseln. 

Es geht nicht um Perfektion, sondern um Strategien

Prokrastination ist für viele Menschen mit ADHS ein ständiger Begleiter, aber wir müssen die Kontrolle nicht komplett abgeben. Wichtig ist, dass wir verstehen, welche Strategien für uns am besten funktionieren - und dass wir zwischen genügend Strategien auswählen können. An manchen Tagen ist es der Timer, an anderen hilft nur die Verabredung mit einem Freund, und an wieder anderen können wir uns nur mit einem großen Stück Schokolade an ein Projekt setzen.

Und ja, Rückschläge gehören dazu. Aber genau wie meine zerkratzte Schallplatte sind sie auch eine Erinnerung daran, dass wir aus unseren Fehlern lernen können und ständig an unseren Aufgaben wachsen. Und wenn gar nichts mehr hilft, dann melde dich einfach bei mir. Ich unterstütze dich gerne!

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