Warum Spaß und kleine Schritte so wichtig für eine erfolgreiche Self-Care Routine sind
In vielen meiner Workshops – und in meiner Coaching-Praxis – erzählen mir Teilnehmer und Klienten mit ADHS oft, wie ausgebrannt und erschöpft sie sind. Sie haben nicht selten das Gefühl, von ihrem Alltag total erschlagen zu werden und sich permanent im Ausnahmezustand zu befinden. Und das ist meines Erachtens auch kein Wunder. In einer Welt zu leben, die hauptsächlich von und für neurotypische Menschen geschaffen wurde, führt häufig dazu, dass wir uns ausgelaugt, frustriert und verzweifelt fühlen, ohne dass wir einen Ausweg sehen.
Wir alle wissen, dass es daher besonders wichtig ist, uns regelmäßig genug Zeit für uns selbst zu nehmen, um wieder auftanken zu können und nicht völlig unterzugehen. Jedoch ist es oft gar nicht so einfach, die nötige Zeit für uns selbst zu finden, wenn unser Leben bereits aus allen Nähten zu platzen droht. Erschwerend hinzu kommt noch, dass
• unsere exekutiven Funktionen die Planung und Umsetzung unserer Ideen behindern.
• unsere Impulsivität zu für uns eher ungünstigen Entscheidungen führt.
• unser Hyperfokus verhindert, dass wir Grundbedürfnisse wie Essen, Trinken oder Schlafen adäquat befriedigen.
Somit sind wir nicht selten in einem Teufelskreis gefangen, aus dem es nicht immer leicht ist, auszubrechen. Was können wir also konkret tun, wenn wir uns unbedingt mehr um uns kümmern möchten, es aber nicht schaffen, Self-Care wirklich zu einer Priorität in unserem Leben zu machen?
Zunächst einmal sollten wir versuchen, den Druck auf uns selbst zu reduzieren und unsere Erwartungen herunterzufahren. Denn das Letzte, was wir brauchen, ist mehr Stress in unserem Leben, der durch unrealistische Ziele hervorgerufen wird. Wenn uns also regelmäßiger Sport zu machen, mehr Obst und Gemüse über den Tag verteilt zu essen oder vor dem Zubettgehen zu meditieren nicht wirklich ansprechen, dann sollten wir auf uns hören und uns lieber etwas suchen, das uns attraktiver erscheint.
Self-Care ist in den letzten Jahren zu einem Schlagwort geworden, das vor allem in den sozialen Medien von Menschen propagiert wird, die großartig aussehen und ihr Leben angeblich mühelos meistern. Jedoch anstatt sich mit Influencern zu vergleichen und sich dann schlecht zu fühlen, weil wir die vorgegebenen Standards nicht erfüllen können, ist es produktiver, sich einen kleinen Bereich auszuwählen, den wir langsam verändern können und wollen – und uns dann an die Arbeit zu begeben. Und je langsamer und realistischer wir dabei vorgehen, desto besser.
Grundbedürfnisse befriedigen
Als Einstieg ist es keine schlechte Idee, eine Bestandsaufnahme hinsichtlich unserer sogenannten Grundbedürfnisse zu machen.
Essen und Trinken: Wie schon weiter oben erwähnt, neigen wir nicht selten dazu, Essen und Trinken zu vernachlässigen, was unserem Körper auf die Dauer viel abverlangt. Somit wäre eine erste effektive Maßnahme bereits einfach nur, uns hilfreiche Reminders zu setzen, die uns an Mittag- und Abendessen erinnern – und dadurch sicherstellen, dass wir genügend Energie für die Bewältigung unseres Tages haben. Das Gleiche gilt auch für ausreichendes Trinken.
Weiterhin können wir uns oft schon mit einem Vorrat von gesunden Snacks weiterhelfen, z.B. Nüsse, frisches Obst, ein paar Karotten mit Hummus – sodass wir nicht auf Schokoriegel oder Chips zurückgreifen, wenn wir zwischen den Mahlzeiten Hunger verspüren – oder einfach nur kurz Lust auf etwas zum Knabbern haben.
Natürlich wäre es fantastisch, wenn wir es auf die Dauer schaffen würden, regelmäßig gesunde Mahlzeiten auf den Tisch zu bringen – aber das Planen und Zubereiten von Mahlzeiten kann ein weiteres Problem darstellen, wenn wir uns ohnehin schon überfordert fühlen. Manchmal reicht es daher schon aus, zunächst einfach nur auf ein gesundes Frühstück zu achten – und uns dann langsam zum Mittagessen und Abendessen vorzuarbeiten, falls das für uns wichtig ist. Genauere Tipps und Strategien rund um gesundes Essen findest du hier.
Bewegung: Wenn Essen für uns kein Problem darstellt, dann ist es vielleicht die regelmäßige Bewegung, an der es bei uns hapert. Der Schlüssel zum Erfolg liegt hier darin, etwas zu wählen, das uns wirklich Spaß macht – und uns nicht überreden zu lassen, doch in das neue Fitnessstudio zu gehen oder den gleichen Yoga-Kurs zu belegen, für den unsere Freundin so schwärmt, wenn wir uns nicht dafür begeistern können. Begeisterung ist aber die Voraussetzung dafür, dass wir länger bei einer Sache bleiben und nicht nach ein paar Mal die Lust verlieren. Und natürlich ist es darüber hinaus auch wichtig, klein anzufangen und sich kein unrealistisches Ziel zu setzen, wie einen Marathon zu laufen. Schon 10 Minuten pro Tag können sich positiv auf unseren Körper auswirken und uns darin bestärken, mit unserem Sportprogramm fortzufahren.
Ruhephasen: Ein weiteres Problem liegt oft darin, dass wir uns keine Ruhe gönnen, wenn wir eigentlich eine Auszeit benötigen. Manchmal ist die beste Art von Self-Care schlicht und ergreifend gar nichts zu tun – auf dem Sofa zu liegen und Netflix zu gucken, einen guten Roman zu lesen oder eine Tasse heißen Kakao zu trinken. Sich selbst die Erlaubnis zu geben, nichts tun zu dürfen und sich zu erholen, fühlt sich oft wie ein kleines Verbrechen an. Aber wir müssen nicht immer produktiv sein, um eine Daseinsberechtigung zu haben und als Mensch Wertschätzung zu erfahren.
Schlaf: Das Gleiche gilt auch für unser Schlafbedürfnis. Schlaf ist enorm wichtig für unser allgemeines Wohlbefinden und unsere Fähigkeit, uns tagsüber konzentrieren zu können. Aber vor allem wenn wir ADHS haben, ist es nicht immer einfach, ausreichend Schlaf zu bekommen; daher kann eine Bettroutine unter Umständen hilfreich sein, um leichter in den Schlaf zu finden. Wenn du mehr über dieses Thema erfahren möchtest, findest du vielleicht meinen Artikel „15 Dinge, die du gegen Schlaflosigkeit tun kannst“ hilfreich.
Self-Care auf emotionaler und mentaler Ebene
Edward Hallowell, renommierter ADHS-Experte in den USA, sieht in engen Beziehungen zu Familienmitgliedern oder Freunden eine der wichtigsten Komponenten für ein glückliches Leben. Sein Ratschlag: Sich regelmäßig Zeit für wichtige Menschen in unserem Leben zu nehmen und Gewohnheiten zu entwickeln, wie feststehende Verabredungen zum gemeinsamen Mittagessen oder einem Spaziergang, um sicherzustellen, dass wir diese Menschen in unseren vollen Tag integrieren können. Sinnstiftende soziale Interaktionen geben uns Kraft und lassen uns viele Dinge in einem positiveren Licht sehen.
Eine weitere Möglichkeit, uns gut zu fühlen, liegt für viele von uns in Hobbys und Aktivitäten. Wie auch bei der Frage des richtigen Sports kommt es dabei sehr stark auf persönliche Vorlieben an. Stricken, häkeln, basteln oder mit Holz arbeiten, Puzzle machen, Zeitung lesen, kochen, backen, ein Instrument spielen – die Möglichkeiten sind endlos. Auch hier müssen wir unter Umständen eine Reihe von Aktivitäten ausprobieren, um herauszufinden, was am besten zu uns passt, aber einen Versuch ist es auf jeden Fall wert. Auch wenn wir vielleicht nach einiger Zeit wieder feststellen, dass sich unsere Interessen geändert haben und das, was uns noch vor Kurzem brennend interessierte, nun plötzlich seinen Reiz verloren hat - ein Phänomen, das sich wie ein roter Faden durch verschiedene Bereiche unseres Lebens zieht, wenn wir neurodivergent sind.
Last but not least können wir durch Meditation, Yoga, Tai-Chi oder anderen Entspannungsübungen mehr über uns erfahren und besser zur Ruhe kommen. Allerdings nur unter der Voraussetzung, dass wir uns mit diesen Methoden identifizieren können und sie gerne ausführen. Ich erinnere mich noch gut an meine eigene Erfahrung mit Meditation und die vielen Vorurteile, die ich mit mir unbewusst herumtrug. Außerdem hatte ich immer das Gefühl, ruhig und gelassen genug zu sein und eigentlich diesen ganzen esoterischen Kram gar nicht zu brauchen – bis ich mich dann endlich einmal 10 Minuten zum Meditieren hinsetzte und mit Schrecken feststellen musste, wie meine Gedanken zwanghaft um jene To-Do-Liste kreisten, die ich an diesem Tag abarbeiten wollte, anstatt mich auf meinen Atem zu konzentrieren. Plötzlich wurde mir bewusst, wie sehr ich am Tag darauf fixiert war, Dinge zu erledigen und mir eigentlich keine 10 Minuten Auszeit gönnen wollte. Allein die Tatsache, dass ich mir meines Stresslevels plötzlich bewusst wurde, half mir enorm, häufiger abzuschalten und bessere Entscheidungen für meine Work-Life-Balance zu treffen.
Wenn es um Self-Care für uns ADHSler geht, sollten wir mit und nicht gegen unser Gehirn arbeiten. Wir sollten auf uns hören und die Dinge tun, die uns wirklich begeistern. Dadurch steigen die Chancen, dass wir diese Dinge zu unseren täglichen Gewohnheiten machen. Wir müssen vielleicht ein bisschen mehr Geduld mit uns zu haben, bis wir eine für uns befriedigende Routine gefunden haben – und dürfen uns nicht entmutigen lassen, wenn sich unsere Interessen plötzlich wieder komplett ändern. Was heute funktioniert, ist nicht notwendigerweise auch morgen noch für uns passend – und auch das ist völlig in Ordnung!